Ein berühmter Architekt hinterlässt Spuren, die man an den Gebäuden sofort wieder erkennt – egal, wo sie auf der Welt stehen. Bei Richard Neutra ist es die Kombination von zwei Merkmalen. Mit dem «Spider Leg» ragt das Flachdach seiner meist einstöckigen Villen imposant über die Gebäudehülle hinaus. Wie ein ausgestelltes Bein ragt es über die Dachkante hinaus. Darunter können für das 20. Jahrhundert riesige Glasfenster das Selbstbewusstsein der Bauherren dokumentieren. Beides führt dazu, dass Aussen- und Innenraum ineinanderlaufen, oder umgekehrt formuliert, die Grenzen verschwimmen. Das zweite Merkmal heisst «Reflecting Pool». Auch Wasser und Natur sollten mit dem Gebäude harmonieren. «Biorealismus» nannte Neutra seinen architektonischen Ansatz, der Bau und Umgebung möglichst übergangslos miteinander zu verweben sucht. Mit statischen, nicht flexibel wirkenden Gebäuden konnte die Philosophie von Neutra nichts anfangen. Ihm ging es um den Spiegel des Naturgeschehens, um so immer wieder eine «Seelenerfrischung» zu realisieren. Seine Sprache der Architektur war für den Visionär nie einfach nur ein Wohnkasten mit vier Wänden, sondern immer auch Medizin für die Seele.
Visionäre sind allerdings oft eher schlechte Geschäftsleute. Neutra war ein ruheloser Perfektionist, der das Beste herausholen wollte. Das schlug sich dann auch im Preis nieder. Ein Businessplan – so würde man heute sagen – war für ihn eher ein Fremdwort. Daher waren seine Kunden am Anfang meist begeistert und drohten am Schluss nicht selten mit juristischen Konsequenzen. Neutra wandelte finanziell auf einem schmalen Grat.
Ein Beispiel ist die im Auftrag des Hamburger Zeit-Verlegers Gerd Bucerius 1966 realisierte Villa oberhalb von Brione sopra Minusio bei Locarno im Tessin. Die beeindruckende Aussicht passte zum eleganten Stil des Hauses. Der Verleger hatte aber danach einen leeren Geldbeutel.
Anfänge in Wien und Berlin
Richard Neutras Karriere begann wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Geburtsstadt Wien in der Bauschule von Adolf Loos. Hier bekam er Kontakt zu verschiedenen Vertretern der modernen Architektur. So beeindruckten ihn die Gebäude von Frank Lloyd Wrights. Schon damals unternahm er viele Reisen, die ihn nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg auch nach Berlin führte. Dort war er Assistent von Erich Mendelsohn und entwarf auch internationale Projekte wie ein Geschäftsviertel in Haifa, welches allerdings nicht realisiert wurde. Das gelang den Kollegen vom Bauhaus mit der «Weissen Stadt» in Tel Aviv. «Architektur braucht frische Luft und viel Licht» war ein zentrales Motto, welches Neutra auch später prägen sollte.
Moderne und Natur versöhnen
Zu Beginn der Zwanzigerjahre war Neutra auch in der Schweiz, wo er seine zukünftige Frau, die Sängerin Dione Niedermann, kennenlernte. Mit ihr wanderte er 1923 in die USA aus. Dabei traf er auch auf die Städte, die die damalige erste Referenz für die Moderne waren. New York erlebte einen Boom mit seinen Hochhäusern, und Chicago war die Geburtsstadt des Taylorismus, der zusammen mit dem Fliessband, welches in den Schlachthöfen von Chicago zum ersten Mal die Produktivität steigen liess, die Arbeitswelten veränderte. Das war für Neutra interessant, passte aber nicht in sein naturnahes Weltbild, welches er mit der Moderne versöhnen wollte.
Das war in Kalifornien, wo er seit 1925 lebte und arbeitete, anders. Er fand dort einen idealen Nährboden für seine Ideen. Das prägte auch sein Bild in der Architekturgeschichte. Er galt als Vertreter des modernen «International Styl» oder des «Desert Modernism» in den USA. Sein erstes berühmtes Referenzobjekt war das 1928 / 29 realisierte Lovell House. Die Stilelemente, mit denen er Weltruhm erlangte, sind hier vorhanden. Eine offene Konstruktion harmoniert mit weiten, hellen Durchblicken.
Wieder in Europa
1948 kam Neutra nach über zwei Dekaden wieder nach Europa zurück. Das zerstörte Europa lechzte nach neuen Ideen, die aus den USA kamen. Die Popularität Neutras reichte weit über die Fachkreise hinaus. Der amerikanische Lebensstil war das Vorbild, und seine Architekten waren die Missionare, die die neuen Botschaften verkündeten. Die Versöhnung von Natur und Moderne ging in dieser Stimmung leicht unter. Die Moderne mit ihrem Schneller, Höher und Weiter übernahm auch in good old Europe das Zepter. Emigranten wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe, die zurückgekehrt waren, prägten nun ganze Stadtviertel, die aus heutiger Sicht in Teilen kritisch reflektiert werden. Selbst der Stil von Neutra wurde eingedampft und verzwergt. Die Bungalowelle der Sechzigerjahre gibt dafür Anschauungsmaterial. Richard Neutra realisierte nur wenige Originalbauten in Europa, die aber heute umso mehr glänzen.
Der Inneneinrichter
Wenig bekannt, aber im Kontext seines ganzheitlichen Schaffens einzuordnen, ist Neutras Arbeit an der Inneneinrichtung seiner Häuser. Als Einzelstücke und Kleinstserien entwarf Neutra für die Villen und Siedlungen seiner Bauherren immer wieder Möbel, die der deutsche Spezialmöbelhersteller VS im Jahr 2012 wiederentdeckte und gemeinsam mit Dion Neutra, Sohn und Büropartner von Richard Neutra in Los Angeles, genauestens recherchierte, dokumentierte und als Manufakturkollektion neu auflegte.
Den Bogen von Neutras Architektur zur Einrichtung spannt die Frühlingsausstellung 2016 im Architekturforum Zürich.
Weitere Informationen:
www.vs.de/neutra
www.af-z.ch/neutra