Architekten und Ingenieure stehen vor grossen Herausforderungen: In der modernen Architektur sind Glasfassaden, die für Helligkeit sorgen und Gebäude repräsentativer wirken lassen, immer gefragter. Prognosen zufolge sollen allein im Jahr 2021 weltweit 1,33 Milliarden Quadratmeter neue Fassaden verbaut werden. Das entspricht in etwa der Fläche des Stadtgebiets von London. Das Problem: Vor allem im Sommer benötigen Gebäude mit Glashülle viel Energie, um die Raumtemperatur erträglich zu halten. Klimaanlagen sind wahre Stromfresser und massgeblich verantwortlich dafür, dass Gebäude in den Industrieländern rund 40 Prozent aller Kohlendioxid-Emissionen verursachen.
Wer mit Glas plant, muss deshalb darauf achten, dass es mit Zusatzfunktionen zur Verschattung und Klimasteuerung ausstattet ist. Dies gilt umso mehr, als die Länder im Rahmen ihrer Klimaschutzziele immer weniger Emissionen erlauben. So haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union darauf verständigt, dass Neubauten ab 2020 fast keine Energie mehr für Heizung, Warmwasser, Lüftung und Kühlung benötigen und den restlichen Energiebedarf selbst decken. Multifunktionale Fassaden können Abhilfe schaffen. «Viele Elemente wie Steuerung oder Sonnenschutz waren in der Vergangenheit schon in die Fassade integriert. In der Zukunft werden weitere Funktionen dazukommen», sagt der Stuttgarter Architekt Stefan Behnisch. Dazu zählt er Beleuchtungselemente, Wärmetauscher zur Produktion von Solarwärme sowie Elemente der mechanischen Be- und Entlüftung.
Bisher sind derartige Hüllsysteme kein Standard, weil Fassaden noch stark in einzelnen Komponenten betrachtet und die Bauteile von verschiedenen Herstellern entwickelt werden. Planer müssen sie deshalb aufwendig selbst miteinander kombinieren. Doch das könnte sich bald ändern, denn Industrie und Forschung haben den Bedarf erkannt und fokussieren sich inzwischen stärker auf die Entwicklung integrierter Lösungen. «Fassaden haben ein konstantes physikalisches Verhalten, obwohl sich die Bedingungen aussen wie innen ständig ändern», sagt der Bauingenieur und Architekt Werner Sobek, Leiter des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart. «Man würde sich doch also eigentlich wünschen, dass man die Fassade schalten und an das, was aussen und innen passiert, anpassen kann.»
Einige Bauprojekte wie das 67 Meter hohe, 16-geschossige Automation Center der Firma Festo aus dem süddeutschen Esslingen liefern bereits einen Vorgeschmack auf die künftige Architektur. Es wurde Ende 2015 offiziell eingeweiht und folgt einem ausgeklügelten Energiekonzept. Seine Glasfassade mit einer Gesamtfläche von 8 500 Quadratmetern ist als sogenannte Abluftfassade konzipiert, bei der die Luft zwischen dem inneren Blendschutz, den Aluminiumbauteilen der Elementfassade und der Verglasung permanent abgesaugt wird. Dadurch kann Sommerhitze gar nicht erst bis in die Innenräume vordringen – der Kühlbedarf sinkt.
Für zusätzlichen Licht- und Wärmeschutz sorgt im neuen Festo-Hochhaus sogenanntes elektrochromes Glas, das sich nach Bedarf dimmen lässt und Sonnenstrahlen abblocken kann. Insgesamt 441 sogenannte Sandwich-Scheiben mit einer Gesamtfläche von 1000 Quadratmetern wurden installiert. Ihre Innenseite ist mit einer hauchdünnen Schicht aus Wolframoxid-Nanopartikeln bedampft. Wird eine elektrische Spannung angelegt, färbt sie sich blau und reduziert so die Lichtdurchlässigkeit. Das geschieht im Automation Center über die Gebäudeleittechnik voll automatisch, sobald Sensoren das Signal dazu geben, kann aber auch manuell per Knopfdruck oder Touchscreen erfolgen. Die Schaltzeit von der hellsten bis zur intensivsten Färbung gibt der ostdeutsche Hersteller Econtrol-Glas mit 20 bis 25 Minuten an. Im gedimmten Zustand werde nur noch zwölf Prozent der Strahlung durchgelassen, der Rest reflektiere an den Partikeln. Econtrol-Glas hat in Europa bereits fünf Projekte der gleichen Grössenordnung mit insgesamt 15’000 Quadratmetern schaltbarem Fensterglas ausgestattet. Und die Nachfrage steigt. «Das Bewusstsein für energieeffiziente Gebäude hat sich verbessert», sagt Geschäftsführer Hartmut Wittkopf. Zur Wirtschaftlichkeit von elektrochromem Glas erklärt er, dass es in der Anschaffung zwar teurer sei als herkömmliches Isolierglas und für das Schalten zusätzlicher Strom verbraucht werde. Dennoch mache sich eine Anschaffung bezahlt, weil durch das Licht- und Temperaturmanagement die Energieeffizienz eines Gebäudes entscheidend verbessert und auf äussere Verschattung wie Jalousien verzichtet werden könne. «Wir gehen davon aus, dass sich Econtrol-Glas nach durchschnittlich vier bis sechs Jahren rechnet», sagt Wittkopf.
Econtrol-Glas ist nicht das einzige Unternehmen, das elektronisch tönbare Fassadenelemente anbietet. Auch Sage Saint-Gobain produziert diese Technik, die etwa von Fassadenspezialist Schüco als dynamisches Glas vertrieben wird. Der deutsche Wissenschafts- und Technologiekonzern Merck verfolgt eine andere Variante von schaltbarem Glas. Gemeinsam mit Industriepartnern erprobt er Fensterscheiben, die noch schneller auf Lichtveränderungen reagieren sollen als vergleichbare schaltbare Glaslösungen. Dazu verwendet Merck eine Mischung aus Flüssigkristallen, die auch in Displays von Fernsehern, Laptops oder Smartphones eingesetzt werden.
«Damit lässt sich die Intensität des einfallenden Tageslichts in Sekundenschnelle anpassen und eine höhere Farbenvielfalt erzielen», erklärt Martin Zitto, Business Development Manager bei Merck. Auch wenn sich die technologische Basis von anderen schaltbaren Gläsern unterscheidet, ist die Funktionsweise von Flüssigkristallglas ähnlich: Die Mischung wird zwischen zwei miteinander verklebte Glasscheiben gefüllt. Durch Anlegen einer Spannung können die Kristalle in verschiedene Anordnungen gebracht werden. Je nach Anordnung fällt mehr oder weniger Licht durch die Schicht – die Fenster sind entweder durchsichtig oder undurchsichtig.
Noch sind die Flüssigkristallscheiben allerdings nicht auf dem Markt verfügbar. Die Merck-Tochter Merck Window Technologies produziert sie in einer Forschungsanlage im niederländischen Eindhoven nur in kleinen Stückzahlen, um zu zeigen, wie sich das Konzept in der Produktion umsetzen lässt. Nun hofft Merck auf Unternehmen, die die Technik in die kommerzielle Fertigung übertragen. «Unsere Kompetenz liegt eher in der Entwicklung der Chemikalie, nicht in der Produktion», sagt Zitto. Bei der Suche nach Interessenten für seine Technik kommt Merck offenbar gut voran. Laut dem Manager könne es Ende 2017 bereits die ersten Produkte geben.
Bis dahin will auch die Seele Unternehmensgruppe ihre modular aufgebaute, opake Glasfassade «Iconic Skin» auf dem Markt etablieren. Bei dem speziell für Büro- und Gewerbebauten konzipierten «Glass Sandwich Panel» handelt es sich um ein multifunktionales Element, das bereits alle notwendigen Trag- und Funktionselemente integriert. Effizienzvorteile bietet Iconic Skin gleich in mehrerer Hinsicht: Zum einen ist es nach Angaben von Seele-Marketing-Leiterin Christine Schauer als hochwärmedämmendes Bauteil konzipiert – sein sogenannter Wärmedurchgangskoeffizient (U-Wert in W / m²K) beträgt nur 0.15–0.47. Daher muss nur wenig Energie aufgewendet werden, um die Gebäude zu Beheizen oder zu Kühlen. Zum anderen ermöglichten vergleichsweise niedrige Produktionskosten einen günstigen Preis für eine Glasfassade. Mit einer Länge von bis zu 16 Metern, der horizontalen und vertikalen Verlegerichtung sowie verschiedenen Bedruckungsmöglichkeiten biete Iconic Skin ausserdem zahlreiche Gestaltungsfreiräume.
Auf der glasstec 2016 in Düsseldorf, der weltweit grössten und internationalsten Fachmesse der Glasbranche, können Unternehmen die Innovationen der Fassadenspezialisten vom 20.–23. September 2016 genauer unter die Lupe nehmen und sich über die entscheidenden Trends informieren. So wird Seeles neue Glasfassade auch eines der Exponate der Sonderschau «glass technology live» sein, die von der Universität Stuttgart organisiert wird. Hier werden am Beispiel von grossformatigen Fassaden-Mock-Ups und Eins-zu-Eins-Modellen die neuesten Entwicklungen im Bereich Fassade und Energie gezeigt, dieses Jahr mit einem besonderen Schwerpunkt auf Energieeffizienz und Wärmeschutz. In direkter Nachbarschaft zur «glass technology live» finden glasstec-Besucher das Kompetenzcenter Glas + Fassade. Es richtet sich mit seinem thematischen Angebot rund um den Schwerpunkt Glas an Fassadenplaner, Bauingenieure und Architekten. Flankiert werden die Ausstellungen durch Fachvorträge auf dem Internationalen Architekturkongress. Hier werden Experten die Exponate und Fassadentrends genauer vorstellen.
Aber auch Zukunftskonzepte für die Gebäudehülle, die derzeit noch nicht verfügbar sind, werden auf den Veranstaltungen der glasstec 2016 thematisiert. Glasfassaden, die sich automatisch den Lichtverhältnissen anpassen und heisse Luft absaugen, sind erst der Anfang. Künftige Lösungen dürften noch stärker Solartechnik integrieren und Strom und Wärme produzieren, die direkt vor Ort in Batterien und Wärmespeichern zwischengespeichert wird. So kann steht Energie auch dann zur Verfügung, wenn die Sonnen nicht scheint – eine Grundvoraussetzung für Gebäude, die sich möglich autark aus eigenen Energiequellen versorgen und keine Energielieferungen mehr von ausserhalb beziehen sollen.
Technische Fortschritte in der Photovoltaik und bei den Lithium-Ionen-Batterien, die als Solarstromspeicher bevorzugt eingesetzt werden, nähren die Hoffnung auf einen baldigen Durchbruch stromerzeugender Fassaden. So arbeiten die Dresdner Firma Heliatek und der belgische Flachglashersteller AGC Glass Europe an Solarelementen, die organische Photovoltaikfolien verschiedener Ausmasse, Farbabstufungen und Transparenzen in Bauglas integrieren. Dank der Folien würden die Elemente besser handhabbar und könnten wesentlich leichter in Fassaden integriert werden als bisherige Solarmodule, die mit vergleichsweise massiven Siliziumsolarzellen gebaut werden, heisst es bei Heliatek. Deshalb bestehe grosses Interesse der Baubranche, Pilotprojekte mit den neuen Solarelementen zu realisieren. Auf der glasstec 2016 in Düsseldorf haben die Unternehmen die Gelegenheit, sich über neue Techniken auszutauschen und Kooperationen anzubahnen – und so letztlich dem energieeffizienten Gebäude den Weg zu bereiten.