Der IT-Fachkräftemangel ist eine bildungspolitische und gesamtwirtschaftliche Herausforderung, die alle Beteiligten endlich ernst nehmen müssen. Mit Professor Dr. Thomas Rautenstrauch, dem Leiter des Center for Accounting & Controlling der HWZ, führten wir ein Interview, um in diese drastische Situation mehr Licht zu bekommen.
Welche zentralen Berufsfelder und Ausbildungswege gibt es im IT-Bereich? Es gibt hier in der Schweiz offensichtlich akademische und nichtakademische Wege.
Richtig. Es gibt in der Schweiz mehrere Zugangswege zu IT-Karrieren, die aufeinander abgestimmt werden können. Fangen wir mit der Informatik-Lehre an, die eine handwerkliche Grundlage darstellt. Anschliessend geht es über den eidgenössischen Fähigkeitsausweis und die höhere Fachschule bis zur Möglichkeit, ein Studium an einer Fachhochschule zu absolvieren. Wer eine Berufsmatura hat, kann direkt an der Fachhochschule einsteigen. Das ist ein durchlässiges System, das in der Schweiz seit Jahren Schule macht. Wer aus der Praxis kommt, kann es so über Zwischenschritte bis an die Hochschule schaffen.
Das ist eine positive Botschaft. Demgegenüber steht aber der seit Jahren beklagte IT-Fachkräftemangel. Um die 60 Prozent der Schweizer Unternehmen stellen heute fest, dass ihnen IT-Talente am Arbeitsmarkt fehlen, die sie für die digitale Transformation ihres Unternehmens benötigen. Was ist hier schiefgelaufen?
Das würde ich auch gerne wissen. Aber das Bild sieht leider noch düsterer aus. An den Fachhochschulen zählen wir beispielsweise die Zahl der erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen. Dort hatten wir 2018 mit 488 Absolventinnen und Absolventen des Wirtschaftsinformatikstudiengangs schweizweit einen Höchststand erreicht. 2019 waren es 80 weniger und 2020 sind wir bei 375 gelandet. Wir haben folglich sogar mit einer rückläufigen Tendenz zu kämpfen, trotz eines steigenden Bedarfs. Da tut sich eine problematische Schere auf, die nicht nur auf meiner Stirn zu Sorgenfalten führt.
Ich dachte bislang, wir sprechen von linear leicht ansteigenden Herausforderungen. Jetzt sagen Sie: Nein, wir standen 2018 schon mal besser da. Für mich ist das eine neue Qualität, allerdings im negativen Sinne.
Dazu kommt eine sich auftürmende Nachfrageseite. Bereits in der Pandemie und auch jetzt steigt die Nachfrage nach IT-Dienstleitungen dramatisch an. Das Home Office braucht kompetente IT-Unterstützungen. Viele Unternehmen stellen ganze Prozessketten um. Nehmen Sie nur das Beispiel des Kundesupports. Die Kundenberatung musste im letzten Frühjahr innerhalb weniger Wochen komplett auf Online-Formate umgestellt werden. Da brauchen Sie Expertinnen und Experten, vor allem bei KMU ohne eigene IT-Abteilungen. Wenn diese IT-Spezialistinnen und -Spezialisten nicht verfügbar sind, zerschellt das ganze hochgeschraubte Projekt der digitalen Transformation in der Praxis. Und es wird aufgrund dieser Situation extrem teuer für die Unternehmen.
Lassen Sie uns kurz einen wichtigen Unterbereich durchgehen. Aus aktuellem Anlass können wir mit IT-Security anfangen. Wir lesen fast jeden Tag von neuen Erpressungsversuchen und unterschiedlichster Schadsoftware in den Medien.
Cybersecurity-Spezialistinnen und -Spezialisten sind durch den Einfluss der Corona-Pandemie noch wichtiger geworden. Die Pandemie hat Hacker regelrecht vor sich hergetrieben. Unternehmen werden mit krimineller Energie und in neuer Intensität gehackt, obwohl dies kein neues Phänomen ist. Sowohl quantitativ als auch qualitativ erleben wir immer wieder neue Steigerungsstufen.
Jetzt gibt es sowohl in Europa als auch in der Schweiz immer mehr Anbieter mit mehr Wissen zum Thema IT-Sicherheit. Firmen wie ESET, Trend Micro oder – hier in der Schweiz – infoGuard präsentieren beeindruckende Wachstumszahlen …
… und gleichzeitig suchen alle verzweifelt nach Fachkräften. Egal, ob man einen internen oder externen Ansatz wählt: Die Herausforderung, Fachkräfte zu finden, lässt die Verantwortlichen nicht los.
Da brennt offensichtlich die Hütte, um dies umgangssprachlich auf den Punkt zu bringen. Was hat sich denn in den letzten Jahren in der IT-Branche verändert?
Wir haben mit einem neuen Bewusstsein zu tun, was die Qualität und die Bedeutung von Daten angeht. Dadurch sind neue Berufsbilder entstanden. Stichworte sind hier Big Data und datenbasierte Geschäftsmodelle. Unternehmensverantwortliche wollen mehr aus ihren Daten herausholen. Und schon sind wir wieder bei neuen Stichworten wie Data Science und Business Analytics. Neben dem Sammeln von Daten geht es immer auch um das Heben von Schätzen, die dort verborgen sind. Mit klug ausgewerteten Daten kann man sehr viel mehr über die Kundschaft, die Lieferantinnen und Lieferanten in Erfahrung bringen. Da lassen sich beispielsweise Erkenntnisse über das Kaufverhalten oder Lieferzeiten gewinnen, die wir gestern so noch nicht hatten. Am Schluss steht vielleicht sogar ein neues Geschäftsmodell vor der Tür. Aber auch dazu braucht es qualifizierte Expertinnen und Experten, die dies erkennen und bewerten.
Wie reagieren Unternehmensverantwortliche, wenn sie keine Fachkräfte finden?
Sie gehen zunehmend in die Cloud. Unternehmen, die bislang eigene IT-Strukturen unterhalten haben, suchen sich Cloudlösungen, die extern bedient werden. Sie kaufen sich, beispielsweise im Rahmen von Software as a Service (SaaS), Software-Applikationen von aussen ein. Cloud Computing erlebt aktuell einen wahren Boom.
Aber bestehen nicht auch Gefahren, wenn ich mich als Geschäftsführer überhaupt nicht mehr mit den IT-Themen auseinandersetze?
Jede Medaille hat zwei Seiten. Da liegen Sie richtig. Es scheint dann so, dass man alle Herausforderungen nach aussen abgeben kann. Aber die Cloud-Anbieter suchen ja selbst verzweifelt nach Fachkräften.
Hinzu kommt, dass neue Themen wie Data Science und Analytics bei unseren Ausbildungsträgern erst in die Lehrpläne eingepflegt werden müssen. Auch das braucht seine Zeit.
Was seit Jahren auffällt, ist der Gendergap. Ich habe vor einigen Wochen ein Interview mit einem CEO eines kleineren IT-Unternehmens geführt. Er hat von 25 Prozent seiner IT-Fachkräfte gesprochen, die Frauen seien. In anderen Branchen würde man heute sagen, da gibt es noch Luft nach oben. Hier ist es aber eine erfreulich positive Zahl. Warum finden wir auch in Ihren Hörsälen fast nur Studenten und keine Studentinnen?
Ich komme nochmals zu den Absolventenzahlen vom Anfang dieses Interviews zurück. Nur etwa ein Zehntel davon sind Frauen. Das ist deprimierend.
Und die Situation wird sich auch in den nächsten Jahren nicht verändern, wenn es in der Ausbildung so aussieht.
Hier gibt es erst Veränderungen, wenn wir ganz am Anfang ansetzen. In den Schulen gilt es, Mädchen für technische und naturwissenschaftliche Themen gezielt zu begeistern.
Ihr Haus konzipiert für den Herbst einen neuen Bachelor-Studiengang. Wie sieht dieser aus?
Neue Themen wie Data Science und Machine Learning sind darin integriert. Wir müssen als Ausbildungsinstitution immer am Ball bleiben, damit die Wirtschaft die Fachkräfte mit den richtigen Qualifikationen bekommt. Das ist unser Anspruch. Wir haben den Fokus da gesetzt, wo die Lücke, sprich der Fachkräftemangel, am grössten ist.
Aber Sie brauchen selbst Fachkräfte als Lehrpersonal. Wie finden Sie diese?
Ein Weg ist, auf ehemalige Studierende zu setzen. Viele haben noch eine Bindung zu unserer Fachhochschule und darauf setzen wir. Aber sonst stehen auch wir im knallharten Wettbewerb um Fachkräfte. Es gibt viele Jäger und wenige Hasen. Zudem haben die begehrten Persönlichkeiten ihren Preis.
Bei Bachelor-Studiengängen bilden wir üblicherweise, ich überspitze das mal etwas, Fachidioten aus. Die Menschen können gut Programmierzeilen schreiben. Wie können Sie da die Auswirkungen auf die Arbeitswelt und Gesellschaft einschätzen. Bei der aktuellen schnellen und umfassenden Transformation geht es doch auch immer um ethische oder soziale Fragen?
Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Allerdings dominiert an Hochschulen die Ansicht, wonach die Studentinnen und Studenten sich zunächst das Basiswissen aneignen sollten, um es im weiteren Verlauf des Studiums dann einordnen zu können. Wir haben aus diesem Grund zum Thema digitale Ethik im Rahmen von künstlicher Intelligenz auch einen Masterlehrgang im Programm. Das ist ein spannendes Weiterbildungsprogramm, das auf rege Nachfrage stösst.
Wir haben am Schluss des Interviews einen positiven Punkt gefunden. Super.
Ja, natürlich hat es diese auch, aber sonst liegen viele Herausforderungen vor uns, die wir im Bildungsbereich dringend angehen sollten.