Bernhard Bauhofer: Willkommen zur heutigen Ausgabe von CrossTalk. Unser Fokus liegt auf Megatrends – nicht auf kurzfristigen Schwankungen, sondern auf tiefgreifenden, langfristigen Kräften, die Wirtschaft, Finanzen und unser Zukunftsverständnis still und leise grundlegend verändern. Mein Gast ist Fagan Naghiyev, Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter Emerging Markets bei der Crossinvest Zürich AG. Fagan ist ein Finanzexperte mit über 20 Jahren Erfahrung, unter anderem bei Julius Bär. Sein Werdegang – von Baku über Moskau und Wien bis nach Zürich – ist mehr als nur geographisch; er spiegelt eine einzigartige Mischung aus kultureller Perspektive und beruflicher Reife wider. Östliche Intuition und westliche Struktur vereinen sich in seiner Anlagephilosophie zu einem differenzierten und ausgewogenen Ansatz für das Kapitalmanagement.
Sie verwenden oft den Begriff „Megatrends“. Was bedeutet er Ihnen in einer Zeit, in der er fast schon zu einem Modewort geworden ist, wirklich?
Fagan Naghiyev: Danke, Bernhard. Ohne Marketing-Schein sind Megatrends dauerhafte, langfristige Veränderungen, die die Architektur unserer Systeme grundlegend verändern. Bevölkerungsalterung, Automatisierung, Digitalisierung, Klimawandel – all dies sind nicht nur singuläre Phänomene, sondern strukturelle Komponenten einer neuen wirtschaftlichen Realität. Nehmen wir zum Beispiel den demografischen Wandel in Ostasien, der bereits Wachstums-, Konsum- und soziale Sicherungsmodelle verändert. KI gestaltet das Finanzwesen neu – von der Risikobewertung bis zur Portfoliokonstruktion. Besonders interessant sind die Überschneidungen: Wenn Digitalisierung und ökologische Transformation aufeinandertreffen, entstehen neue Anlageklassen, neuartige Anlagestrategien und sogar völlig neue Märkte.
Bernhard Bauhofer: Wie wirkt sich das auf das Asset Management aus?
Fagan Naghiyev: Tiefgreifend. Wir entfernen uns von der „Set-and-Forget“-Logik. Heutige Anleger verlangen Agilität – sowohl auf Portfolioebene als auch in den zugrunde liegenden Prinzipien. Szenariobasiertes Denken ist heute unerlässlich: Wie würde sich diese Anlage bei regulatorischen Veränderungen oder geopolitischer Fragmentierung entwickeln? Wenn ESG von freiwillig zu verpflichtend wird, müssen Unternehmen alles überarbeiten, von der Compliance bis hin zu den Risikorahmen für Begünstigte. Dies erfordert ein Umdenken der gesamten Vermögensverwaltungsphilosophie – sowohl hinsichtlich der Methoden als auch der Mandate.
Bernhard Bauhofer: Was passiert im institutionellen Segment? Welche Veränderungen halten Sie für die bedeutendsten?
Fagan Naghiyev: Wir erleben einen tektonischen Wandel. Institutionelle Anleger bewerten Renditen nicht mehr isoliert. Der Fokus liegt auf der systemischen Widerstandsfähigkeit von Portfolios – ihrer Fähigkeit, regulatorischen Schocks, makroökonomischen Veränderungen sowie politischen oder klimatischen Risiken standzuhalten. Dies führt zu einer Neubewertung der ALM-Modelle: Wie liquide sind unsere Positionen in einer Krise? Stimmen unsere Portfolios mit dem tatsächlichen Horizont unserer Verbindlichkeiten überein? Positiv ist, dass dies ein Zeichen für die Reife der Branche ist. Infrastruktur, Private Debt, die Energiewende – all dies sind nicht nur Renditebringer, sondern auch Einflussinstrumente auf die Realwirtschaft. Die Kehrseite? Der operative Druck. Interne Teams sind überlastet, das Risikomanagement wird komplexer und der Compliance-Aufwand wächst. Das grösste Risiko besteht darin, den Anschluss zu verlieren – an Rahmenbedingungen festzuhalten, die in den vergangenen Jahrzehnten geprägt wurden, anstatt an den Szenarien von morgen.
Bernhard Bauhofer : Wie sieht es mit der privaten Vermögensverwaltung aus?
Fagan Naghiyev: Auch hier sind die Veränderungen dramatisch. Das zentrale Spannungsfeld liegt zwischen den Erwartungen digitaler Kunden und der technischen Reife der Branche. Fintech, nahtlose UX, neuronale Netze – all das gehört zum Alltag der neuen Generation vermögender Privatkunden. Dennoch verlassen sich viele Banken immer noch auf Excel und E-Mail. KI, Automatisierung, ESG-Analysen – all das wird nur bruchstückhaft umgesetzt. Die Folge? Kunden erhalten Signale von ihrem persönlichen GPT-Assistenten schneller als von ihrem Vermögensberater. Das untergräbt das Vertrauen. Die gefährlichste Illusion ist die der Selbstgefälligkeit. Vermögensverwalter gehen oft davon aus: „Wenn es funktioniert, lass es.“ Doch heute kann ein Kunde mit einem Wisch den Anbieter wechseln. Um privat zu bleiben, muss privates Vermögen digital werden.
Bernhard Bauhofer: Sie arbeiten auch mit Erben der nächsten Generation. Was beobachten Sie in ihrer Denkweise?
Fagan Naghiyev: Ihre Weltanschauung unterscheidet sich deutlich von der der vorherigen Generation. Während früher Kapitalerhaltung die zentrale Logik war, sieht diese Generation Kapital als Instrument der Wirkung, nicht nur der Kontinuität. Sie fühlen sich von privaten Märkten, Risikokapital und zweckorientierten Initiativen angezogen. Es geht nicht nur um Kennzahlen – es geht um Sinn. Viele wollen sich an Transformationen in den Bereichen Ernährung, Gesundheitswesen und Bildung beteiligen. Wir fungieren zunehmend nicht nur als Vermögensverwalter, sondern auch als Partner bei der Gestaltung von Anlagezielen.
Bernhard Bauhofer: KI wird als die Elektrizität des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Ist sie eine Bedrohung oder eine Chance?
Fagan Naghiyev: Sie ist eher eine Infrastrukturebene als ein Werkzeug. KI erweitert die Möglichkeiten radikal – in der Datenverarbeitung, der Anomalieerkennung und der Prognose. Für institutionelle Finanzdienstleister ist sie nicht länger optional – sie ist grundlegend. Aber damit geht auch eine Schwachstelle einher. Modelle werden zu Blackboxes. Das Hauptrisiko besteht nicht darin, dass sie Fehler machen, sondern darin, dass wir nicht verstehen, warum sie Fehler machen. Deshalb brauchen wir eine neue Disziplin.