Strom ist für das Auge unsichtbar. Trotzdem weiss Swissgrid, die Betreiberin des nationalen Übertragungsnetzes, in jedem Moment genau Bescheid über den Zustand des Höchst- und Hochspannungsnetzes. Das 6 700 km lange Übertragungsnetz hat nämlich schweizweit 140 Schaltstationen mit rund 8 000 Messpunkten. Dort werden Strom- und Spannungsdaten von Leitungen und Transformatoren erhoben und im Sekundentakt an die Swissgrid-Netzleitzentrale in Laufenburg übermittelt. Dank dieser Messwerte kennt die nationale Netzgesellschaft die reale Belastung des Netzes und kann dessen Stabilität durch geeignete Interventionen jederzeit gewährleisten. Das Höchst- und Hochspannungsnetz ist seit Jahrzehnten mit der entsprechenden Monitoring-Infrastruktur ausgerüstet. Anders ist das beim Mittel- und Niederspannungsnetz, das den Strom zu den Kunden bringt: «Das Verteilnetz auf den Netzebenen 5 und 7 ist heute noch weitgehend blind und passiv. Hier wird kaum etwas gemessen, und nichts kann beeinflusst werden», sagt Stephan Moser, Elektroingenieur ETH und Leiter der Abteilung Energiesysteme bei Supercomputing Systems AG (SCS). Das soll sich nun ändern. Grundlage bildet das Projekt Gridbox, das SCS gegenwärtig zusammen mit BKW, ewz und Bacher Energie durchführt und das Stephan Moser leitet.
Plattform für neue Geschäftsmodelle
Die Grundidee des Projekts besteht darin, das Stromnetz mit einer Messinfrastruktur (‹Gridboxen›) auszurüsten. Diese soll jederzeit eine Bestimmung des Netzzustandes ermöglichen. Das Wissen über den Netzzustand eröffnet in der Folge eine Palette von Anwendungsmöglichkeiten, allen voran für die Betreiber der Stromnetze. Verteilnetzbetreiber können beispielsweise für jeden Punkt im Netz feststellen, ob sich die Spannung innerhalb der vorgeschriebenen Toleranzen bewegt. Oder sie können dank der Monitoringdaten etwa die Lasten (Elektroboiler, Batteriespeicher) so steuern, dass schwankend anfallender Solar- und Windstrom im Netz keine Überlastung hervorruft. Fehler im Netz (z. B. ein Kurzschluss durch einen umgestürzten Baum) können schnell lokalisiert und in ihrer Art bestimmt werden. Kennt ein Energieversorger den Zustand seines Netzes im Detail, kann er seine Netze mit weniger Kapazitätsreserven betreiben; das spart Kosten beim Netzausbau und erleichtert die Planung. Ferner können Verteilnetzbetreiber dank detaillierter Informationen über den Zustand ihrer Infrastrukturelemente (z. B. Trafo-Anlagen) die Wartungszyklen reduzieren.
Ein flächendeckendes Monitoring der Verteilnetze eröffnet aber auch zukunftsträchtige Anwendungen, die die Energieversorger oder weitere Dienstleister in Kooperation mit Privaten und Firmen anbieten können: Monitoringsysteme können den Stromverbrauch der einzelnen Kunden erfassen und stellen die Daten bereit, um Wärmepumpen, Boiler, Batteriespeicher oder dezentrale PV-Anlagen in Echtzeit zu regeln. Stromkonsumenten mit einer hauseigenen PV-Anlage (‹Prosumer›) können ihren Eigenverbrauch optimieren. Auf dieser Grundlage sind neue Preis- und Geschäftsmodelle denkbar. So lassen sich elektrische Verbraucher und Erzeugungsanlagen so steuern, dass sie den Charakter eines ‹virtuellen Kraftwerkes› bekommen (wie das die Swisscom-Tochter SES mit ihrem Produkt ‹tiko› macht; siehe dazu Artikel «tiko belebt den Regelenergie-Markt» unter www.bfe.admin.ch/CT/strom). Endkunden könnten in einem liberalisierten Strommarkt mit dynamischen Preisen festlegen, wann und von welchem Anbieter sie ihren Strom beziehen wollen. Denkbar sind ferner neue Geschäftsmodelle durch Auswertung von Netzdaten.
Pilotprojekte im Berner Oberland und in Zürich
Ein möglicher Weg zu dieser schönen neuen Welt vielfältig genutzter Verteilnetze ist die Gridbox-Technologie. Die Gridbox ist ein Mess-, Kommunikations- und Steuergerät, das an wichtigen Punkten im Stromnetz eingebaut wird: im Haus des Stromkunden, in Verteilkästen (versorgen jeweils einen Strassenzug mit Strom) oder in Trafostationen (versorgen jeweils Teile eines Quartiers oder eines Dorfes). Von den einzelnen Gridboxen gelangen die Messdaten per Mobilfunk, Stromleitung (PLC) oder Glasfasernetz in die Zentrale, wo die Daten aufbereitet, gespeichert und – je nach Anwendung – in geeignete Steuerungssignale verarbeitet werden. Die Steuerungsbefehle gelangen dann auf gleichem Weg zurück zu den einzelnen Gridboxen und können dort die gewünschten Informations- und Steuerungsaufgaben übernehmen.
Im Rahmen des aktuellen Projekts wird die Gridbox in zwei Pilotnetzen im Berner Oberland und in der Stadt Zürich getestet: In der Gegend von Frutigen und Kiental wurden im Juni 2015 gut 60 Haushalte mit einer Gridbox ausgerüstet, 21 weitere Gridboxen in Verteilkästen und Trafo-Stationen installiert. Damit verfügt ein gut 50 km umfassender Teil des BKW-Mittel- und Niederspannungsnetzes über die Messinfrastruktur. Die zweite Pilotregion befindet sich in einem städtischen Umfeld: In Zürich-Affoltern wurde ebenfalls im Juni 2015 ein Niederspannungsnetzgebiet mit 40 Wohnhäusern und ca. 700 Kunden mit insgesamt knapp 50 Gridboxen ausgerüstet. «Das Gridbox-Pilotprojekt ist für ewz ein erster grosser Meilenstein auf dem Weg zum Verteilnetz der Zukunft», sagt Benedikt Loepfe, Leiter Verteilnetze bei ewz. «Zusammen mit dem grössten Batteriespeicher der Schweiz, den wir ebenfalls in Zürich-Affoltern installiert haben, steht uns ein weltweit wahrscheinlich einzigartiges Praxislabor zur Verfügung. Hier wollen wir kontinuierlich dazulernen, welche Beiträge wir als Verteilnetzbetreiber zur Umsetzung der Energiewende leisten können.»
Beschreibung des Gesamtnetzes
Das Gridbox-Projekt startete 2011 mit zwei Konzeptstudien, die aus dem BFE-Forschungsprogramm Netze finanziert wurden, gefolgt von der Entwicklung der Gridbox-Geräte und deren Installation in den beiden Pilotnetzen. Seit Juni 2015 läuft die einjährige Demonstrations- und Testphase. Eine zentrale Frage des Feldversuchs ist, ob ein Gridbox-Messsystem den Zustand (Ströme, Spannungen) eines Netzes flächendeckend beschreibt, obwohl Gridboxen nur an ausgewählten Punkten installiert sind. Das scheint tatsächlich zu gelingen, indem die Messwerte der einzelnen Gridboxen mittels mathematischer Modellierung (Algorithmen) auf das Gesamtnetz extrapoliert werden. Dank dieser sogenannten ‹state estimation› weiss man für das Berner und das Zürcher Gridbox-Netz für jede beliebige Stelle im Netz, wie gross Strom und Spannung an dieser Stelle sind. In den Worten von Dr. Oliver Krone, Leiter Smart Grid Engineering bei der BKW Energie AG: «Wir haben den Nachweis erbracht, dass Zustandsschätzung (State Estimation) im Niederspannungsnetz mittels phasensynchroner und hochgenauer Messung technisch möglich ist.» In einem nächsten Schritt wollen die Forscher nun herausfinden, wie stark die Zahl der Gridboxen reduziert werden kann, um immer noch eine hinreichend genaue Schätzung des Gesamtnetzzustands zu erhalten. Je schlanker die Messinfrastruktur, desto günstiger wird die Ausrüstung eines Verteilnetzes.
Ein weiteres Ergebnis der beiden Testnetze: Die Datenübertragung von den Gridboxen in die Zentrale und zurück erfolgt genügend schnell und verlässlich. Das für den Pilotversuch eigens entwickelte Kommunikationsprotokoll (‹GridNet›) erwies sich als sehr tolerant gegenüber Paketverlusten und kurzen Verbindungsunterbrüchen. Obwohl das Mobilfunknetz eine begrenzte Kapazität zur Datenübertragung aufweist, bewältigt es das Datenvolumen aus den Gridboxen zuverlässig. Eine Voraussetzung ist allerdings, dass das Datenvolumen – 2 MB pro Gridbox pro Sekunde – noch in der Gridbox um einen Faktor 1000 reduziert wird. Erfolgreich erprobt wurden in dem Projekt auch Technologien im Hinblick auf eine Plug-and-Play-Funktionalität der Gridboxen. Das bedeutet, dass eine Gridbox an einer beliebigen Stelle ins Netz geschaltet werden kann und diese dann selber erkennt, an welchem Ort sie sich befindet und deren Daten in der Folge korrekt zur Beschreibung des Gesamtnetzes herangezogen werden.
Innovative Partnerschaft
Im Gridbox-Projekt arbeiten mit BKW und ewz zwei der grössten Verteilnetzbetreiber mit Spezialisten aus der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) zusammen. Diese Kooperation ist richtungsweisend für die Fortentwicklung der Schweizer Netzinfrastruktur. So ist eine Haupterkenntnis von ewz-Manager Benedikt Loepfe: «Das Verteilnetz der Zukunft zu bauen ist im Alleingang unmöglich. Es braucht einen Mix an Kompetenzen aus Netzplanung und -betrieb sowie ICT und Datenmanagement. Im Gridbox-Projekt sind wir mit unseren Projektpartnern dafür ideal aufgestellt.»
So funktioniert die Gridbox
Um Stromnetze ‹intelligent› zu machen, gibt es verschiedene Ansätze: Das Netz kann mit dezentralen, nicht-koordinierten Mess- und Steuerungseinheiten ausgestattet werden, die untereinander keine Daten austauschen. Diesen Weg geht z. B. das Gridsense-System von Alpiq (siehe Artikel «Schwarmintelligenz
für das Strommetz» unter www.bfe.admin.ch/CT/strom). Anders das Gridbox-
System: Hier werden die dezentral erhobenen Daten an eine regionale Zentrale übermittelt und dort ausgewertet und in Steuerungssignale verarbeitet, was
eine Koordination aller Geräte und weitergehende Funktionalitäten ermöglicht.
Gridboxen werden an wichtigen Netzknotenpunkten eingebaut: in Häusern, Verteilkästen und Trafostationen. Gridboxen erfassen im Sekundentakt die Phasorinformationen (zeitsynchron Amplitude von Strom und Spannung und damit den Phasenwinkel zwischen beiden Grössen), dazu Power-Quality-
Messgrössen wie Klirrfaktor und Oberwellen. Durch den Vergleich der Phasorinformationen verschiedener Gridboxen lassen sich wichtige Aussagen über
den Zustand des Gesamtnetzes gewinnen. Um den Vergleich zu ermöglichen, bezieht jede Gridbox über GPS eine exakte Zeitinformation. Die Gridbox
ist ein Steuer- und Messgerät, welches die wichtigsten Funktionalitäten einer Phasor-Measurement-Unit (PMU), eines Power-Quality-Messgeräts und
eines Störschreibers in einem Gerät vereint.
Eine einzige Gridbox kann aktuell die Stromstärke in bis zu 40 Leitern
(10 Strängen) messen, was in Verteilkästen und Trafostationen wichtig ist. Dabei kommen (speziell für das Projekt entwickelte) Rogowski-Spulen zum Einsatz,
die um die Leiter gelegt werden und den Strom mit Induktivtechnik kontaktlos messen. Für die Spannungsmessung wird die Gridbox direkt mit dem Leiter verbunden. Die beiden Pilotnetze im Berner Oberland und in der Stadt Zürich sind so ausgestattet, dass Rückschlüsse auf den Stromverbrauch der
angeschlossenen Haushalte nicht möglich sind.
Technologien für Monitoring, Kontrolle und Steuerung von Verteilnetzen werden heute schon von verschiedenen Elektrizitätsversorgern getestet bzw. eingesetzt. Neue Systeme sind zum Beispiel das oben erwähnte System Gridsense von Alpiq, das von der Westschweizer Firma DEPSys entwickelte System GridEye oder – um ein ausländisches Beispiel zu nennen – das System iNES
des deutschen Energieinfrastrukturdienstleisters SAG. BV
BFE unterstützt Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturm-Projekte
Das aktuelle Projekt von SCS, Bacher Energie, BKW und ewz gehört zu den Pilot- und Demonstrationsprojekten, mit denen das Bundesamt für Energie (BFE) die sparsame und rationelle Energieverwendung fördert und die Nutzung erneuerbarer Energien vorantreibt. Darüber hinaus hat das BFE eine Reihe von Leuchtturmprojekten bezeichnet, die sich ebenfalls an den Zielsetzungen der Energiestrategie 2050 orientieren. Das BFE fördert Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte
mit 40 % der nicht amortisierbaren Mehrkosten gegenüber den Kosten für konventionelle Techniken. Gesuche können jederzeit eingereicht werden.
Weitere Informationen unter:
www.bfe.admin.ch/pilotdemonstration
www.bfe.admin.ch/leuchtturmprogramm
Hinweis
Die zwei Schlussberichte zur Konzeptphase
finden Sie unter: www.aramis.admin.ch/Texte/?ProjectID=31232
Weitere Auskünfte zu dem Projekt erteilt Dr. Michael Moser ([email protected]), Leiter des BFE-Forschungsprogramms Netze.
Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Netze finden Sie unter www.bfe.admin.ch/CT/strom.