Mehr als ein Jahr nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative sind die Weiterführung der Migrationspolitik sowie die Beziehungen zur europäischen Union nach wie vor das zentrale politische Thema der Schweiz. Im Fokus stehen insbesondere die Personenfreizügigkeit sowie die bilateralen Verträge. Die Schweiz ist in der Defensive. Einerseits muss der Verfassungsartikel innerhalb von drei Jahren umgesetzt werden, und kommt anderseits keine Einigung mit der EU zustande, besteht die Gefahr, dass die Bilateralen wegfallen. Für die Wirtschaft wäre dies – notabene nach dem Wegfall des Euro-Mindestkurses – ein GAU. Die Rechtssicherheit im wirtschaftlichen Verkehr mit unserem wichtigsten Handelspartner wäre auf einen Schlag verloren. Der Verlust der bilateralen Verträge wäre für nahezu alle Bereiche der Wirtschaft verheerend.
Auch wenn der Nutzen der Verträge selbst für Ökonomen äusserst schwierig zu bemessen ist, zeigen neuere Studien heute doch, dass dank der Verträge mit der EU das Wirtschaftswachstum der Schweiz um einen viertel bis zu einem vollen Prozentpunkt pro Jahr bzw. das Pro-Kopf-Wachstum um bis zu einem halben Prozent pro Jahr gesteigert werden konnte. Und dies bei einer zusätzlichen jährlichen Nettoeinwanderung von zirka 10’000 bis 15’000 Personen im Erwerbsalter. Ohne Abkommen würde die Schweiz anders dastehen. Derweil beobachtet das Volk mit Argusaugen unsere Landesregierung, wie diese versucht, die Masseneinwanderungs-Initiative umzusetzen. Den Willen des Volkes gilt es zu respektieren, auch wenn unter Parteien und Verbänden immer noch debattiert wird, wie der Stimmentscheid vom 9. Februar zu interpretieren sei. Der Volksentscheid steht sinnbildlich für das Spannungsfeld, in dem sich die Schweiz heute befindet:
Einerseits ist und bleibt der Souverän die oberste Instanz bei allen politischen Entscheidungen. Andererseits sind die aussenpolitischen Beziehungen heutzutage derart verflochten und kompliziert, dass ein rein nationales und autonomes Bestimmen sehr anspruchsvoll geworden ist.
Der Föderalismus und die direkte Demokratie sind sicherlich zwei der wichtigsten Erfolgspfeiler der Schweiz. Eine produktive Machtkontrolle, kurze Entscheidungs- und Kontrolldistanzen sowie ein regulativer Mechanismus erlauben es den Schweizer Bürgern, die politischen Eliten «im Zaun» zu halten. Dass dies nötig ist, zeigen etliche Vergleichsländer, in denen eine zu grosse Machtfülle einzelner Personen schnell in Hybris umgeschlagen ist. Meist zum Leid der Volkes und der Wirtschaft.
Föderalismus und direkte Demokratie bestimmen andererseits aber auch die Grenzen, innerhalb denen Politik in der Schweiz gemacht werden kann. Es erscheint einem wie eine Herkulesaufgabe, die Parlament und Regierung heute zu bewältigen haben. Denn offensichtlich wünscht sich das Volk das «Weggli und den Fünfer». Ob das aussenpolitisch möglich sein wird, bleibt die Frage der Stunde.
Die Schweizer Wirtschaft hat mit ihrer Forderung einer Schutzklausel einen möglichen Weg aufgezeigt, wie dieser Herausforderung begegnet werden kann. Ein solches Modell könnte den Weg ebnen zu einer Einigung mit der EU und der Rettung der bilateralen Verträge. Denn ein Schweizer Migrationsmodell hat bessere Chancen auf Akzeptanz, wenn es auf Regeln zurückgreift, die in der EU bereits bekannt sind. Die Zukunft wird es weisen, inwiefern wir in der Lage sein werden, die unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnisse zu verbinden. Die Schweizer Wirtschaft braucht einen Konsens.
Valentin Vogt ist seit Juli 2011 Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes.
Weitere Informationen:
www.arbeitgeber.ch