Vier Jahre sind es her, dass Peking seinen industriepolitischen Masterplan «Made in China 2025» (MIC25) vorgestellt hat. In dessen Zentrum stehen zehn Kernindustrien, in denen China bis zum Jahr 2025 international wettbewerbsfähige Unternehmen und bahnbrechende Innovationen hervorbringen will. Bis 2049 soll das Land zur technologischen Supermacht aufsteigen. Es lohnt sich, jenseits der tagespolitischen Aufgeregtheiten um die drohenden Handelskriege einen Blick hinter die chinesischen Kulissen zu werfen. Das Thema wird uns auf jeden Fall noch lange beschäftigen.
Der Masterplan MIC25 sorgt weltweit für Irritationen und hat auf Seiten ausländischer Unternehmen, Industrieverbände und Regierungen die Sicht auf China verändert. Die Volksrepublik gilt inzwischen als systemischer Wettbewerber und nicht länger nur als Partner.
Aus der offiziellen Rhetorik der chinesischen Führung ist die Industriestrategie inzwischen
weitgehend verschwunden. An seinem Ziel der globalen technologischen Führerschaft hält Peking jedoch fest. Mehr noch: Die Umsetzung der 2015 vorgestellten Strategie läuft bereits auf Hochtouren und die Auswirkungen sind über die Grenzen Chinas hinaus zu spüren. Industrienationen weltweit sind deshalb gefordert, Antworten auf Chinas strategischen Vorstoss zu formulieren.
Enorme Investitionen
Chinas Industrieoffensive verlief bislang nicht ohne Rückschläge: Planungs- und Koordinierungsfehler führten zu Überkapazitäten und zum ineffizienten Einsatz von Ressourcen. Insbesondere in den letzten zwei Jahren hat die Umsetzung von MIC25 jedoch deutlich an Fahrt aufgenommen – auch als Reaktion auf das verlangsamte Wirtschaftswachstum und den Handelsstreit mit den USA. Der Druck, weitgehend unabhängige Wertschöpfungsketten innerhalb Chinas aufzubauen, ist deutlich gestiegen.
Peking hat auf Rückschläge und Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen sowie technischen Rahmenbedingungen reagiert. Die Industriestrategie wurde seit 2015 nach und nach angepasst, Pilotprojekte gestartet und massiv in Forschung und Entwicklung strategisch wichtiger Technologien investiert. Bis Ende vergangenen Jahres hat die chinesische Zentralregierung mindestens 445 Dokumente verabschiedet, in denen sie die Umsetzung der MIC25-Strategie konkretisiert. Knapp 4 000 Pilotprojekte wurden bis Ende vergangenen Jahres gelistet. Sie treiben die Verbreitung neuer Technologien innerhalb Chinas voran.
2018 wurden zudem dezidierte MIC25-Demonstrationsstädte und -zonen eingerichtet. In diesen Arealen befinden sich etliche von Chinas vielversprechendsten Zentren für intelligente Fertigung. Die Investitionen in Forschung und Entwicklung beliefen sich im selben Jahr auf 300 Mrd. USD, das entspricht einem Anteil von beinahe 2,2 Prozent des chinesischen Bruttoinlandprodukts (BIP). China investiert – gemessen am BIP – somit mehr in Forschung und Entwicklung als die Europäische Union (2,1 Prozent).
Optimierter Staatskapitalismus
Die chinesische Führung will ihr hybrides Modell des Staatskapitalismus optimieren, indem eine neue Balance zwischen Markt und Staat, zwischen Privatunternehmen und Staatsbetrieben (SOEs) angestrebt wird. Viele technologische Fortschritte Chinas waren zuletzt nur dank innovativer Privatunternehmen möglich. Dies gilt insbesondere für Zukunftstechnologien wie alternative Antriebe, Künstliche Intelligenz, Big Data, und digitale Bezahlmodelle. Zugleich aber spielen SOEs weiter eine zentrale Rolle in den für MIC25 relevanten Sektoren. In sogenannten Schlüsselindustrien, darunter Schiffsbau, Luftfahrt und Hochgeschwindigkeitszüge, haben SOEs immer noch einen Umsatzanteil von circa
83 Prozent. In Industrien, die Peking als Pfeiler der technologischen Entwicklung definiert, darunter Elektronik, Anlagenbau und Autoindustrie, sind es 45 Prozent. Der Erfolg oder Misserfolg der laufenden Reform von Staatsunternehmen hat daher unmittelbare Konsequenzen für den Fortschritt von MIC25. Der Privatsektor soll zunehmend dazu beitragen, SOEs wettbewerbsfähiger und innovativer zu machen. In Pilotversuchen zu halbstaatlichen, also gemischten Eigentumsverhältnissen erwarben private Unternehmen Anteile an einigen der grössten Staatsunternehmen des Landes. Um Chinas SOEs effizienter zu machen, setzt die Regierung auch auf die Fusion staatlicher Unternehmen,
zum Beispiel in der Bahntechnik (China Railway Rolling Stock Corporation) oder der Kernenergie (China National Nuclear Corporation).
Zukunftstechnologien im Fokus
Während chinesische Unternehmen in traditionellen Hochtechnologie-Branchen wie Luftfahrt, Werkzeugbau oder der Softwareindustrie bisher nur mühsam mit ausländischen
Wettbewerbern Schritt halten können, sieht die chinesische Führung insbesondere bei intelligenter Fertigung, Digitalisierung und Zukunftstechnologien ihre grosse Chance, eine weltweite Führungsposition einzunehmen.
In diesen Feldern sind technologische Entwicklungsunterschiede noch nicht klar festgesetzt. China sieht sich hier imstande, gleich von Beginn an den Ton anzugeben und eigene Standards zu setzen. Das Blatt ist bereits im Begriff, sich zu wenden: In vielen neuen Technologien gibt China heute das Tempo vor, und chinesische Unternehmen spielen weltweit in der obersten Liga mit. Das gilt etwa für die nächste Generation der IT Infrastruktur, wo Huawei und ZTE im Zuge des 5G-Netzausbaus eine globale Vormachtstellung für sich beanspruchen. Weitere Erfolgsbeispiele zeigen sich bei Hochgeschwindigkeitszügen und der Energietechnik im Hochspannungsbereich.
Mittlerweile gibt es in China mehr als 530 Industrieparks für intelligente Fertigung. Davon ist rund ein Fünftel auf die Verarbeitung grosser Datenmengen (Big Data) spezialisiert, 17 Prozent auf neue Materialien und 13 Prozent auf Cloud-Computing.
Auch bei der Künstlichen Intelligenz und vernetzten Fahrzeugen sowie Fahrzeugen mit alternativer Antriebstechnologie hat China bereits viel erreicht. 2017 stammten sieben der zehn führenden Batteriehersteller für E-Fahrzeuge aus China, zusammen kamen sie auf einen globalen Marktanteil von 53 Prozent.
Die Achillesferse
Pekings Abhängigkeit von ausländischem Fachwissen in der Grundlagenforschung und bei Kernkomponenten ist jedoch nach wie vor gross und könnte die ambitionierten Pläne durchkreuzen. Die chinesische Industrie weist Schwächen ausgerechnet in jenen Bereichen auf, die grundlegend für die Entwicklung von Hochtechnologien sind, wie etwa der digitalen Gesichtserkennung. Am offensichtlichsten zeigt sich Chinas Abhängigkeit von ausländischen Technologien und damit seine Verwundbarkeit bei neuen Materialien, Halbleitern und Kernkomponenten für komplexe Maschinenanlagen.
Die chinesische Regierung tritt an ausländische Unternehmen in strategisch wichtigen Industrien heran, um diese zu überzeugen, die hochwertigsten Teile ihrer Wertschöpfungskette nach China zu verlagern oder aufzubauen. Ziel ist es, so die heimische Industrie zu modernisieren und ganze Wertschöpfungsketten am chinesischen Markt zu etablieren. In der Elektronikindustrie war China damit bereits erfolgreich.
Unternehmen, die dazu nicht ohne Weiteres bereit sind, werden unter anderem mit Aussichten auf besseren Marktzugang gelockt. Reicht dies nicht aus, wird mittels Übernahme oder mitunter auch Industriespionage versucht, an die ausländische Expertise
heranzukommen. Insbesondere für sehr begehrte ausländische Unternehmen bietet Chinas Industriestrategie kurzfristig grosse Chancen, langfristig jedoch auch enorme Risiken. Denn Chinas Drang an die technologische Weltspitze dürfte nicht zuletzt aufgrund seiner strategischen Innovationsoffensive die Wettbewerbsfähigkeit anderer Länder in vielen Hochtechnologien schwächen – und das nicht nur auf dem chinesischen oder heimischen Markt, sondern zunehmend auch auf Drittmärkten.
Sonderrolle Deutschlands
Kein anderes Land wird in MIC25 im Kontext intelligenter Fertigung so explizit genannt wie Deutschland. Die chinesische Industriestrategie lehnt sich klar an das deutsche Konzept der Industrie 4.0 an. In Form umfangreicher deutsch-chinesischer Kooperationen, die in ähnlicher Form auch mit der Schweiz aufgegleist werden, werden beispielsweise technische
Universitäten und grosse deutsche Forschungsinstitute zu wichtigen Partnern des chinesischen Fortschritts im Bereich der intelligenten Fertigung. Es wurden politische Rahmenbedingungen geschaffen, die ermöglichen, dass Deutschland und China bereits in zahlreichen Technologie-, Industrie- und Innovationskooperationen gemeinsam an
Projekten arbeiten. Sie reichen von der Grundlagenforschung bis zur Schulung von Fachkräften und der Anwendung neuer Technologien. Über die Risiken und vor allem langfristigen Auswirkungen eines solchen Engagements, etwa durch Technologietransfer, wurde bislang nur zögerlich diskutiert.
Europas Forschungswissen schützen
Bereits heute hat MIC25 spürbare Auswirkungen auf Europa. So verändert Chinas Vorpreschen bei neuen Technologien das Marktumfeld für europäische Unternehmen. Dies ist bei der Künstlichen Intelligenz, Elektromobilität und der Industrie für E-Auto-Batterien bereits der Fall. Internationale Unternehmen haben ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, insbesondere in neuen Industrien, bereits zum Teil nach China verlagert.
Um ungewünschten Technologietransfer zu verhindern, gilt es, entsprechende Kriterien für die Zusammenarbeit – vor allem im Bereich der Forschung und Technik – zu entwickeln. Zudem sollten auf europäischer Ebene die Koordinierung und der Informationsaustausch zwischen Unternehmen und Industrieverbänden sowie Regierungen gefördert und so das europäische Innovationssystem gestärkt werden. Ausserdem kann Chinas Abhängigkeit
von ausländischen Technologien als Hebel eingesetzt werden, um europäische Interessen durchzusetzen. Darüber hinaus wäre es ratsam, die eigene Abhängigkeit von kritischen Kernkomponenten aus China zu verringern. Lernen kann Europa in dieser Hinsicht von Japan, Südkorea und Taiwan, die sich bereits vor langer Zeit auf Chinas Industriestrategie eingestellt haben. Sie verfolgen beispielsweise einen deutlich restriktiveren Ansatz bei Forschungskooperationen und Investitionen. Den wirtschaftlichen Beziehungen mit
China hat dies nicht geschadet.