Das Thema Kryptogeld tritt in eine neue Phase ein. Nach der wilden Zeit der Goldgräberstimmung, die wir historisch gesehen bei jeder technologischen Innovation erleben, kommen nun etablierte Player auf den Markt. Grossunternehmen, wichtige Anleger und hegemoniale Staaten haben das Thema entdeckt. Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in die allgemeine, historische und dann türkisch wirtschaftspolitische Debattensituation.
Wirtschaft ist nicht alles, lautet ein Bonmot, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts. Nur: Wie funktioniert Wirtschaft? Das ist eine sehr berechtigte Frage, ist aber mit sehr unklaren oder widersprüchlichen Antworten verbunden. Auch bei der Einschätzung von Kryptowährungen können die Positionen kaum kontroverser ausfallen. Auf der einen Seite wird die Blockchain-Revolution ausgerufen, die die Wirtschaft völlig umwälzen würde und ein «Game Changer» sei. In Zug (CH) wurde vor wenigen Jahren ein Krypto-Valley ausgerufen. Die Start-ups standen Schlange. Und das Zuger Handelsregisteramt akzeptierte auch vor Ort Zahlungen mit Bitcoin. Inzwischen ist die Euphorie etwas abgekühlt, aber es hat sich eine ganz neue Branche etabliert. Auch auf Anlegerseite hat es beachtliche Verschiebungen gegeben. In den USA und Europa halten 36 Prozent der institutionellen Anleger Kryptowährungen in ihren Portfolios.
Auf der anderen Seite verweist man gerne auf die vielen negativen Beispiele. Neben dem aktuellen Erfolg stehen Misserfolg und viel persönliche Tragik von Anlegern, die viel Geld verloren haben. Onecoin-Gründerin Ruja Ignatova war noch vor wenigen Jahren ein Star der Szene. Sie hatte mit ihrer Familie und Geschäftspartnern eine Art Strukturvertrieb als Geldanlage vermarktet. Die Kryptowährung diente nur als Verpackung. Technische Details zu der Währung und ihrer Blockchain, quelloffene Clientsoftware, Blockexplorer, unabhängige Handelsplätze und all das, was sonst noch eine Kryptowährung mit Reputation ausmacht, suchte man hier vergebens. Unfassbar, wie naiv die Akteure waren, die hier ihr Geld versenkten. Heute ist Ignatova untergetaucht und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Solche negativen Ponzi- oder Schneeballsysteme gab und gibt es auch in der Schweiz einige. Der Autor dieser Zeilen könnte dazu einen Wirtschaftskrimi publizieren. Das Ansehen von Kryptowährungen leidet zudem, da Erpresser aus dem Darknet die Rechner gekapert haben, ihre «Schutzgelder» nicht mehr in Dollar, sondern in Bitcoin verlangen.
Trotzdem erscheinen jetzt, nach den turbulenten Goldgräberjahren, die grossen Player auf der Bühne. Von Genf aus startet Facebook seine Kryptowährung Libra. Reihenweise werden Bankkader aus Schweizer Grossbanken abgeworben. Auch gewichtige staatliche Akteure erscheinen auf der Bühne. Schon dieses Jahr wollte China eine Kryptowährung auf den Markt bringen. Da hat nur das Thema Corona bisher einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch ein digitaler Euro steht in Brüssel auf der Agenda. Wenn aber Venezuela, wie geschehen, eine Krytowährung auf den Markt wirft, ist dies als pure Verzweiflungstat zu werten. Trotzdem, diese Beispiele zeigen, dass die Krypto-Adoption in vollem Gange ist und die nächsten Jahre einige Umbrüche in der Finanzwelt nach sich ziehen werden. Finetechs sind auf dem Vormarsch und bringen die Teppichetagen der Grossbanken zum Wanken.
Die Türkische Situation
Die Türkei bildet auch aus finanzpolitischer Sicht eine Brücke zwischen dem europäischen und asiatischen Kontinent. Die Türkei ist im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern beim Thema Kryptowährungen sehr weit. Mehr als 20 Prozent der Türken geben an, Kryptowährungen zu besitzen. Das spricht für Innovationsfreudigkeit türkischer Anleger, liegt aber vermutlich auch in der schwierigen Situation der türkischen Lira begründet, die seit Jahren unter Druck steht. Auf jeden Fall hat das Capital Markets Board (CMB), die türkische Regulierungs- und Aufsichtsbehörde für den Finanzsektor, die Entwicklung von Leitlinien zur Förderung der Einführung der Blockchain-Technologie in Auftrag gegeben. In diesem Zusammenhang sind einige Studien erschienen.
Im Folgenden schauen wir etwas genauer auf die Studie «Kryptogeld im Kontext des islamischen Rechts und die Blockchain-Verschlüsselungstechnologie» von Dr. Hasan Doğan. Der Autor betont zunächst richtigerweise, wie wichtig es ist, sich in die Geschichte und das Konzept des Geldes zu vertiefen, allein um die aktuellen Bücher besser einordnen zu können. Das geschieht nicht, um historische Feldforschungen anzustellen, sondern um ein realistisches Bild zu bekommen. «Es ist unerlässlich, mehrdimensionale Bewertungen unter Berücksichtigung der Transformation von Konzepten und Systemen wie Börse, Bankwesen und Kredit vorzunehmen, anstatt von vornherein für oder gegen das KryptogeldSystem zu sein.»
Im Folgenden öffnet Dogan einen grossen historischen Fächer. «Wegen der Notwendigkeit, Geld sicher aufbewahren zu müssen, wandten sich die Menschen nach den Münzen an das repräsentative Geld namens Banknote. Die Geldwechsler stellten im Gegenzug für die ihnen anvertrauten Metalle ein anfangs auf den Namen, später auf den Inhaber ausgestelltes schriftliches Dokument zur Verfügung, das nicht für den Kauf von Waren verwendet wurde, aber dem Eigentümer Bequemlichkeiten bei Sicherheit, Schutz und Transport bot.» Geld erlebte in der Geschichte immer weitere Ausformungen. Trotzdem sind die Innovationen früherer Zeiten beachtlich. Schon die Mesopotamier hatten vor 4 000 Jahren Schuldscheine. In der frühen Renaissance agierten die Akteure in Oberitalien mit Wechselpapieren und verbrieften Krediten. Hinter dem Geld stand oftmals ein Edelmetall oder eine staatliche Prägung als Sicherheit. Hasan Doğan führt gekonnt durch die Geldgeschichte mit Schwerpunkt Türkei beziehungsweise genauer dem damaligen Osmanischen Reich. Hier sind nicht nur finanztechnische Parallelen interessant. Auch religionsgeschichtlich gibt es Gemeinsamkeiten. Bevor die christliche Kirche Machtkirche wurde, hatte sie zu Geld ein durchaus ambivalentes Verhältnis. Erinnert sei an die Szene, als Christus emotional durch den Tempel in Jerusalem tobte und die dortigen Finanzakteure heftig kritisierte. Auch der Islam hat, was den Geldhandel betrifft, immer wieder Grenzen gezogen. Das hat bis heute in beiden Grossreligionen Auswirkungen, die nicht zu unterschätzen sind.
Aus Geld wird Kapital
Es gibt aber eine historische Lücke bei Doğan. Sie bezieht sich auf den historischen Bruch, als aus Geld Kapital wird. Geld entstand und entsteht immer durch die Vergabe von Krediten, das war bei den Römern so, im Osmanischen Reich und in Europa bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Und dann passiert etwas. Ab 1760 nahm in England die erste industrielle Revolution Fahrt auf. Die ersten Webstühle wurden mechanisiert. Dampfkraft gab es auch schon bei den Römern, wurde dort aber nur in Spielzeugen verwenden. In Europa entstanden im 19. Jahrhundert riesige Maschinen. Um diese zu finanzieren, brauchte man Kapital. Und warum gerade in England und nicht in Frankreich oder dem Osmanischen Reich? Da England vergleichsweise höhere Einkommen hatte und der Zwang durch Maschinenrationalisierung dort zum ersten Mal eingesetzt wurde. Nur dort, wo Geld zu Kapital wird, entsteht wirklich nachhaltiger Reichtum und nicht nur Spekulationsprofite. Das wird leider bei vielen Geldtheoretikern immer wieder gerne vergessen. Das 20. Jahrhundert begann mit dem Goldstandard. Andere Metallstandards verschwanden. Das Papiergeld war an das Gold gebunden. Das führte allerdings zu einer Situation, bei der Nationalökonomien kaum agieren konnten. Sie befanden sich in einem goldenen Käfig und dadurch konnte auch der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger- bis Anfang der Dreissigerjahre kaum etwas entgegengesetzt werden. Aus diesen Fehlern entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Währungssystem von Bretton Woods. Es hatte den Vorteil, sehr viel flexibler zu sein.
Unterschiede Beachten
Heute sind wir im digitalen Zeitalter angekommen. Wobei es auch hier oft zu Missverständnissen und Widersprüchen kommt. Doğan führt richtigerweise einen zentralen auf: «Virtuelles Geld und elektronisches Geld werden oft verwechselt, aber ihre Bedeutungen sind unterschiedlich. Elektronisches Geld ist die Zahlungsmethode, die in Computern oder anderen Datenspeichermitteln im Namen von Personen und insbesondere für Transaktionen über das Internet verwendet wird. Virtuelles Geld hingegen ist ein Zahlungsmittel, das keine physische Präsenz hat, welches wir nicht konkret in die Hand nehmen können, das in elektronischen Handelsgeschäften verwendet werden kann, aber auf einer eigenen Kontoeinheit basiert.» Für Letzteres sieht Doğan nicht nur in der Türkei Potenziale, vorausgesetzt das islamische Recht rückt in den Fokus. Dabei gebe es noch Hürden wie die Besteuerung von Kryptowährungen. «Das Fehlen eines «Kabz» (Empfang, Besitz, Lieferung des Subjekts im Austausch) wird als weiteres Legitimitätsproblem dafür genannt, dass Kryptowährungen nicht erlaubt seien. Im islamischen Recht wird «Kabz» in zwei Teilen als real und legal bewertet. Demnach wird angegeben, dass für die Übergabe von beweglichen Vermögenswerten keine absolute Änderung ihres Platzes erforderlich ist und dass für den Verkäufer die Freigabe ausreicht.»
Abschliessend kritisiert Doğan, die auch aus meiner Sicht zu verengte Diskussion, die sich nur auf den Bitcoin bezieht und andere Ansätze kaum thematisiert. «Unserer Meinung nach ist es ein grosser Mangel, dass die meisten Kommentare zum Kryptowährungs-System Bitcoin-basierte Bewertungen sind. Bitcoin ist vielleicht die populärste, aber nur eine von fast 1 400 Kryptowährungen. Es ist daher nicht richtig zu glauben, dass die negativen Eigenschaften von Bitcoin, das auch sehr viele Vorteile hat, im Kontext des islamischen Rechts die Grundlage für ein allgemeines Urteil bildet, um alle Kryptowährungen und Systeme als Haram zu betrachten.» Es kommen jetzt nüchterne Zeiten beim Thema Kryptowährungen auf uns zu. Die Türkei kann sicher hier ihre Brückenfunktion ausspielen. Ich bin gespannt.