Diskussion mit Joe Bättig, Dr. jur. Doris Bianchi, Marco Baur, Ronald Biehler, Prof. Dr. Olaf Meyer und Reto Tarreghetta
Moderation: Bernhard Bauhofer und Georg Lutz
Das Drei-Säulen-Modell der Schweiz kommt aus verschiedenen Gründen unter Druck. Wir brachten im Baur au Lac in Zürich die unterschiedlichen Kompetenzen und Positionen der Schweiz zusammen. Es entwickelte sich eine spannende Diskussion.
Lutz: Das Drei-Säulen-Modell der Vorsorge in der Schweiz wird meist über den grünen Klee gelobt. Bernhard Bauhofer hat uns dazu eine mediale Vorlage mitgebracht.
Bauhofer: Ja, ich will den üblichen optimistischen Prognosen wie dem BILANZ-Talk zum Thema, die zwar von Herausforderungen reden, aber insgesamt ein positives Bild zeichnen, etwas entgegensetzen. Die Financial Times vom 20. April 2015 wählt ein sehr negatives Bild. Dort ist die Rede davon, dass das Schweizer Vorsorgesystem in zehn Jahren zusammenbrechen könnte. Demografie, die weltweite Zinssituation und der Negativzinsentscheid der SNB sind hier die zentralen Stichworte. Wo liegt nun die Wahrheit?
Lutz: Vielleicht gibt es ja auch unterschiedliche Wahrheiten?
Bättig: Wenn ich die Wahrheit über die Situation in zehn Jahren prognostizieren könnte, dann wäre ich ein sehr reicher Mann. Das kann ich nicht. Aber einige Hinweise kann man schon geben. Mit den heutigen wichtigen Parametern wie dem Umwandlungssatz, dem Mindestzinssatz und den Zinswelten, wie wir sie kennen, kann man das, was man heute von politischer Seite verspricht, nicht mehr einhalten. Wenn die Menschen älter werden und man immer noch mit den alten Modellen rechnet, genügt ein Dreisatz, um hier Handlungsbedarf anzumelden. Wenn Parameter durch politische Entscheidungen anstatt durch Markt wie Mindestzinssatz festgelegt werden, dann stimmt etwas nicht.
Ich glaube aber an Optimierungen im System. Wenn man mit den gleichen Rahmenbedingungen weiterfährt, ist man in zehn Jahren nicht bankrott. Später vielleicht … Aber bankrott heisst nicht, dass das System bankrott ist, sondern man kann gewisse Verpflichtungen nicht einhalten. Das Worst-Case-Szenario wäre eine Kürzung der Renten. Wir müssen im Übrigen auf allen drei Säulen optimieren und nicht nur auf der zweiten Säule aktiv werden.
Lutz: Man muss gut rechnen können, die Parameter im Auge haben und dann optimieren?
Tarreghetta: Zunächst ist es wichtig zu verstehen, welche Parameter wir verändern können und welche nicht. Den demografischen Wandel können wir weder kurz- noch mittelfristig beeinflussen. Einerseits werden die Leute älter und auch die Alterspyramide sieht heute anders aus als 1985, als das BVG in Kraft gesetzt wurde. Was wir diskutieren können, ist das Leistungsniveau und die Finanzierungseite. Das Zinsniveau zum Beispiel hat sich seit der Finanzmarktkrise immer weiter nach unten bewegt. Damit ist die Herausforderung auf der Finanzierungseite nicht einfacher geworden.
Bianchi: Lassen Sie mich nochmals auf den Beitrag in der Financial Times zurückkommen. Da musste ich etwas schmunzeln. In den Neunzigerjahren wurden wir mit Horrorbildern konfrontiert, die den Zusammenbruch der AHV beinhalteten. Jetzt verlagert sich die Diskussion auf die zweite Säule. Sie galt ja als der unsinkbare Tanker. Jetzt sind die AHV-Themen auch in der Pensionskassenwelt angekommen. Das erstaunt mich schon sehr. Man will den Leuten Angst einjagen.
Bauhofer: Betreibt hier die Financial Times Swiss Bashing?
Bianchi: Nein. Die Herausforderungen liegen heute eher im Bereich der zweiten Säule als bei der AHV. Es läuft nicht so geschmiert, wie man es bei der zweiten Säule immer prognostiziert hatte. Bei den Parametern darf man nicht vergessen, dass wir im Rahmen einer Sozialversicherung agieren. Es geht bei der zweiten Säule nicht um reines Ansparen, je nach Marktlage. Man muss gewisse Leistungsniveaus einhalten. Schon das heutige Leistungsniveau ist für Geringverdiener nicht berauschend.
Lutz: Nochmals nachgefragt: Geht es letztendlich um einen Systemwechsel oder nur das Verändern von Stellschrauben?
Meyer: Es ist ein gutes System, da es diversifiziert. Die Alterspyramide ist die Herausforderung der AHV. Die zweite Säule hat andere Probleme, aktuell die der geringen Zinsen. Doch stimme ich zu: Man muss optimieren. Ich frage mich, ob der Wille da ist zum Agieren und ob unternehmerisch in der zweiten Säule gearbeitet werden darf. Bei den Optimierungen kann man heftig diskutieren, und da geht es nicht nur um kleine Veränderungen. Es geht nicht nur um den Umwandlungssatz, sondern um die zweite Säule, die im Gegensatz zu einer Sozialversicherung eine unternehmerische Aufgabe darstellt. Die Unternehmen der zweiten Säule haben die Aufgabe, bestmöglichste Leistungen bei vertretbarem Risiko zur Verfügung zu stellen und sich nicht auf ein Minimum zu fixieren.
Lutz: Was muss sich jetzt wirklich ändern?
Biehler: Das BVG-System ist 25 Jahre alt. Auch eine Strasse braucht nach diesem Zeitraum einen neuen Belag oder eine zusätzliche Spur. Unser Säulensystem ist grundsätzlich gut. Allerdings lehnen wir uns gerne zurück und klopfen uns auf die Schulter. Das ist fatal. Schauen wir doch über unseren Tellerrand. Wir reden hier von der Reform der Altersvorsorge 2020 mittels einer Reform des Renteneintritts von Frauen von 64 auf 65 Jahre. In Europa passt man das Rentenalter verschiedentlich von 65 auf 67 Jahre an. In Spanien ist das beispielsweise bereits durchgezogen worden. Der zuständige Minister hat sich an die Bevölkerung gewandt und Klartext geredet: Bürger, ihr werdet fast alle über 80, ja 90 Jahre alt, ich habe aber nur noch für zehn Jahre Geld in der Rentenkasse. Man kann dann noch zehn Jahre weitermachen und dann die Rentenzahlungen einstellen oder wir müssen das Rentenalter höher ansetzen. Wenn wir über unseren Inselstaat Schweiz hinausschauen, relativieren sich einige Situationen.
Bianchi: Moment. Wir haben hier in der Schweiz ein anderes politisches System. In keinem europäischen Land würde eine Abstimmung zur Erhöhung des Rentenalters erfolgreich verlaufen. Wir können also unsere Reformen nur sehr umsichtig umsetzen.
Baur: Ich würde den Blick von der Systemfrage abwenden. Es geht um das Thema der Vorsorge und damit letztlich um uns selber. Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Wenn wir heute in der Schweiz die Bürgerinnen und Bürger fragen, wer bereit ist, länger zu arbeiten oder weniger Rente zu haben, wird die Zustimmung homöopathisch ausfallen.
Lutz: Warum eigentlich?
Baur: Der Wille und die Bereitschaft der Politik, hier aufzuklären ist gering, da die Themen Arbeitszeit und Rentenreduktion sehr unpopulär sind. Wenn ich es aber von der Beratungsseite beim Kunden anschaue, sieht das Bild ganz anders aus. Im privaten Umfeld erleben wir es ja. Mit 65 ist es nicht ungewöhnlich, noch drei Jahrzehnte zu leben. Im Bereich der privaten Vorsorge haben wir die Herausforderung darum verstanden. 30 Jahre nach Pension – das ist ein halbes Erwerbsleben und das kostet Geld. Bei der AHV haben bei ihrer Einführung acht Erwerbstätige die ersten Säule finanziert. In zehn bis 15 Jahren sind das noch gut zwei arbeitende Personen. Man muss der Situation klar in die Augen schauen und die Frage stellen, wer das finanziert. Wir als Individuen müssen mehr sparen, womit die Bedeutung der dritten Säule höher sein wird. In der zweiten Säule geht es um nüchterne mathematische Formeln. Wenn Menschen älter werden, gibt es entweder tiefere Renten oder höhere Beiträge. Wer bezahlt das? Entweder die Erwerbstätigen oder der Steuerzahler. Man muss darum die Frage stellen, was wir eigentlich wollen. Es geht somit letztlich nicht nur um die Auswirkungen in den einzelnen Säulen, sondern um eine volkswirtschaftliche Debatte, die wichtig ist.
Lutz: Von der gewerkschaftlichen Seite sieht man dies vermutlich etwas anders. Dort gibt es nicht nur Alt und Jung, sondern unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichem Einkommen und Interessen.
Bianchi: Was nützen mir acht Arbeitslose, die nicht in die AHV einzahlen? Da bin ich mit zwei Angestellten, die gut verdienen und gut einbezahlen, doch besser aufgestellt. Für die Entwicklung der AHV ist die Beschäftigungssituation viel wichtiger als die Bevölkerungssituation. Hier müssen wir die Situation im Griff behalten. Der Ruf nach mehr Kindern bringt uns singulär betrachtet nicht weiter. Auch der Punkt mit dem Rentenalter wird mir zu einseitig aufgegriffen. Der Entscheid, wann ich zu arbeiten aufhöre, wird aufgrund der Rentenhöhe gefällt werden. Wenn die Rente zu tief ist oder sogar abgesenkt wird, muss ich länger arbeiten, sofern der Arbeitsmarkt dies überhaupt zulässt. Aber das ist der Knackpunkt. Wir sind doch weit entfernt von einer Situation, in der Menschen, die über 60 Jahre sind, gute Beschäftigungsmöglichkeiten finden. Ich erlebe in erster Linie Frauen, die auf ihre kümmerliche Rente aus der Pensionskasse verweisen und länger arbeiten wollen, aber vor den verschlossenen Toren des Arbeitsmarktes stehen: «Mich nimmt keiner mehr» lautet eine oft gehörte frustrierte Aussage.
Bauhofer: Aber da liegt ja ein sozialpolitischer Sprengstoff vor unseren Füssen. Es betrifft die Menschen mit einem tiefen Gehalt und Teilzeitbeschäftigte. Eigentlich geht es ja um einen Generationenvertrag, der solidarisch aufgestellt ist. Er ist eigentlich in Stein gemeisselt – nun aber infrage gestellt. Bei einer Swiss-Re-Veranstaltung wurde gar vom Madoff- Prinzip und Rentenklau gesprochen. Die Babyboomer beklauen demnach die jüngeren Generationen. Und das stellt das System und damit das Vertrauen in die Altersvorsorge infrage.
Bianchi: Was ist denn die Alternative? Junge Menschen zahlen nicht mehr in die AHV und kümmern sich individuell, wie sie ihre Eltern im Alter über die Runden bringen. Ist das für Sie der bessere Weg?
Bauhofer: Es ist vielleicht ein ehrlicheres und realistischeres Szenario …
Bianchi: Die klassische Familie erodiert doch immer mehr. Gerade die zunehmenden Pachtwork-Realitäten erfordern einen solidarischen Ausgleich. Jeder vernünftige junge Mensch ist froh über die AHV, da er weiss, dass er bei der Vorsorge für seine Eltern entlastet wird. Zudem garantiert es mir Ansprüche in einem soliden System. Der Generationenkampf wird gerne von den Medien hochgespielt. Ich erlebe in den Betrieben keinen Aufstand der jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen ihre älteren Kollegen. Ich erlebe vielmehr, dass sich die Jungen überhaupt nicht interessieren für die zweite Säule. Das Interesse beginnt mit Mitte fünfzig und schlägt dann schnell in Panik um. Dort, wo es etwas bringen würde, im Alter zwischen dreissig und vierzig Jahren, ist das kein Thema. Ich kenne niemanden, der dreissig ist und bei der Einstellung frägt, wie die Situation in der Pensionskasse aussieht.
Bauhofer: Hat das mit mangelndem Vertrauen zu tun? Vielleicht denkt man inzwischen insgeheim, ich bekomme so oder so nicht alle Gelder.
Baur: Nein, es ist genau umgekehrt. Das Vertrauen in unsere Vorsorgesysteme ist riesig. Der einzelne Bürger glaubt, dass die Vorsorgewerke halten.
Lutz: Jetzt kommt doch noch eine politische Debatte auf.
Bättig: Ich stelle einen Unterschied zwischen heute und der Situation von vor zehn Jahren fest. Heutige Teilnehmer von Informationsveranstaltungen zur Altersvorsorge sind viel jünger. Wenn Sie den Leuten die Informationen geben, dann fällt oft der Groschen. Von alleine kommt niemand. Da gebe ich Ihnen recht, Frau Bianchi. Folglich müssen wir mehr aufklären. Und schon sind wir bei den Parteien, Politikern und Verbänden angelangt. Wenn wir es schaffen würden – das ist allerdings pure Theorie – uns ein rein sachpolitisches Bild zu machen, würden vermutlich die Meinungen, auch hier, viel näher sein. Dann kommt man auch sehr schnell auf das Leistungsniveau zu sprechen. In der Folge braucht es flankierende Massnahmen für einige Gruppen. In Spanien, das war das vorherige Fallbeispiel, hat man über das Leistungsniveau gesprochen. Und wenn man dies nicht hier auch macht, öffnet sich auch der Arbeitsmarkt nicht. Das ganze Tableau der Säulen muss auf den Tisch. Nur so bekommen wir eine belastbare Grundlage.
Meyer: Wir sind immer noch zu sehr in dem heutigen System verhaftet. Weiten wir doch einfach den Zeitrahmen aus. Sprechen wir doch nicht über die nächsten zehn, sondern 50 Jahre. Die meisten Menschen werden dann gar kein Arbeitseinkommen mehr erwirtschaften. Das sagen jedenfalls die Futurologen und Trendforscher. Was machen wir dann mit der Vorsorge, wenn sie gar nicht mehr mit Arbeitseinkommen zu finanzieren ist? Wir sind aus meiner Sicht in einer Übergangssituation, die uns zu ganz neuen Lösungen führen wird.
Lutz: Lassen Sie uns zur anderen Seite, der Anlegerseite kommen. Da sind wir ja in einer sehr volatilen Situation. Das Zinsniveau ist sehr tief, und die Aktien steigen seit Jahren. Es besteht aber die reale Gefahr der Korrekturen. Sie sind Verantwortliche für grosse Anlagesummen. Wie gehen Sie mit dieser Gefahr um?
Biehler: Die Finanzmärkte sind gerade eine grosse Herausforderung. Ich habe auf dem 2. Vorsorgeforum in Interlaken gefragt, wer schon negative Zinsen bezahlt? Noch ist das nicht der Fall. Japan kennt diese Situation bereits lange Jahre. Wir müssen uns damit auseinandersetzen und selbstverständlich auch nach Alternativen umschauen. Ich benötige für eine stabile Pensionskasse und um ein realistisches Leistungsversprechen garantieren zu können, eine Performance von vier Prozent.
Lutz: Gibt es strategische Tipps, wie man die Situation in Griff bekommen kann?
Tarreghetta: Ausgelöst durch die Finanzmarktkrise haben wir es heute mit einer Geldschwemme und einem Tiefzinsumfeld zu tun. Die aktuell viel diskutierten Negativzinsen sind auch nur ein weiterer Tropfen auf diesem heissen Stein. Heute muss man auch die Liquidität als Anlageklasse managen. Eine Pensionskasse kann sich jedoch, auch wenn sie unternehmerisch ist, nur im gegebenen regulatorischen Rahmen bewegen. Dieser kann sicherlich optimiert werden. Bei der Suche nach Rendite respektive neuen Anlageklassen darf man jedoch die damit einhergehenden Risiken nicht vernachlässigen. Das heisst, man braucht auch die entsprechenden Spezialisten. Die Vermögensanlage ist im heutigen Umfeld klar anspruchsvoller. Die Renditeerwartungen sind für die kommenden Jahre sicherlich tiefer anzusetzen.
Biehler: Pensionskassen reden ja schon von einem Anlagenotstand. Man muss aus meiner Sicht aber schlicht innovativer werden. Wir haben grosse Herausforderungen in dieser Gesellschaft zu bewältigen. Eine ist das Wohnen im Alter. Wenn man 65 Jahre alt wird, bekommt man von seinen Kolleginnen und Kollegen einen Kasten Bier, vom Chef vielleicht einen Whisky und ein Schulterklopfen und von seiner Bank das Schreiben mit der Kündigung der Hypothek. Das ist ein Problem. Die derzeitigen Tragbarkeitsrechnungen, für jemanden der eine garantierte Leistung bekommt, sprich AHV- und Pensionskassenrente, mit fünf Prozent hochzurechnen, wenn er eine Festhypothek mit einem Prozent auf zehn Jahre hat, ist schlicht ein Witz. Viele ältere Personen müssen Notverkäufe realisieren, da sie die Tragbarkeitsrechnungen nicht mehr erfüllen können. Hier arbeiten wir an einem Projekt, um die geschilderte Situation über die Pensionskassen aufzufangen. Wir sind ja in einem Anlagenotstand. Wieso sollen wir nicht das Wohnen im Alter über die Pensionskassen finanzieren, mittels eines Anlagefonds, der hier tätig wird.
Ein weiterer innovativer Punkt betrifft eine Langzeitpflegeversicherung für Vorsorgenehmer. Ab Alter 80 haben wir es oft mit einem Langzeitpflegefall zu tun. Das ist der Albtraum einer jeden Krankenkasse. Wir müssen innovativer werden mittels der Möglichkeit, für die Vorsorgenehmer im Rahmen seiner Pensionskasse einer Pflegeversicherung beizutreten.
Meyer: Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen. Es fehlen die unternehmerischen Innovationen. Lassen Sie uns zu neuen Ufern aufbrechen! Pensionskassen haben früher um die 150 oder 200 Millionen Franken verwaltet. Mein Haus, die Profond, steht heute bei knapp sechs Milliarden. Warum sollen wir immer noch mit der gleichen Strategie arbeiten? Man muss mit eigenen Teams Neues wagen.
Lutz: Wo finden wir das?
Meyer: Wir sollten uns an neue Anlageklassen herantrauen. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist doch nur da, wenn klar ist, dass wir handeln. Wenn ich nur über die Situation jammere und dann die Leistung runterfahre, bin ich unglaubwürdig. Man muss zeigen, was man macht, dann akzeptieren die Leute auch schwierige Entscheidungen. Bisher gibt es aber hier wenig Druck und Wettbewerb im Vorsorgebereich. Wenn in einem Unternehmen weniger Kunden kämen, müsste ich sofort reagieren. In Pensionskassen sind wir oft abgeschottet. Marktdruck auf Pensionskassen ist die wahre Lösung. Wir reden hier primär von einem Effizienz- und erst dann von einem Verteilungsproblem.
Bättig: Wenn man den Markt transparenter und mobiler machen würde, der Mitarbeiter nicht immer wechseln müsste, wenn er zu einem neuen Arbeitgeber geht, Pooling-Lösungen möglich wären, dann würden wir schon weiterkommen. Regulierung, die die Sicherung der Vorsorge sicherstellt, muss gewährleistet sein. Aber gleichzeitig braucht es neue Lösungen. Wir schrumpfen ja zusammen. Im Jahr 2002 hat es in der Schweiz 6 400 Pensionskassen gegeben, heute gibt es noch 2 800. In fünf Jahren gibt es noch 800, so meine Prognose. Es braucht spezialisierte Anbieter, die in ihrem Bereich die Vorsorgewerke unterstützen können. Sammelstiftungen haben schon solche Pooling-Instrumente…
Meyer: Ja, das sind die treibenden Akteure.
Lutz: Was sagt man von Gewerkschaftsseite zur Anlageseite? Es gibt ja auch Pensionskassen, die Ihnen nahestehen.
Bianchi: Die Renditen sind doch bisher gut. Wir reden von acht, neun Prozent. Da fällt es schwer, auf den ersten Blick an die düsteren Szenarien zu glauben. Die Tiefzinsphase eröffnet auch Chancen. Wir müssen innovativer werden. Das betrifft auch die Kostenseite. Da hat sich in den letzten Jahren doch einiges bewegt. Wenn die Renditen nicht mehr so sprudeln, achtet man, dass man auf dem Weg dorthin nicht viel verliert.
Baur: Wo sind welche Entscheidungsgremien für welche Zinssätze? Der Bundesrat legt den Mindestzins im BVG fest. In der dritten Säule entscheidet die Finma, welche die Mindestzinssätze für private Lebensversicherungen festlegt, und eine Nationalbank legt Leitzinsen fest, «spielt» also auch noch mit. Auch da müsste man sich die Frage stellen, ob hier alles am richtigen Ort aufgehoben ist, oder ob es nicht ein Kompetenzzentrum/Entscheidungträger für alle diese Fragen geben müsste.
Bättig: Eine freie und transparente Wahl ist für mich der wichtigste Punkt.
Bianchi: Die freie Pensionskassenwahl bringt uns aber in Teufels Küche. Dann müssten die Pensionskassen verpflichtet sein, alle aufzunehmen. Sonst geht es ja immer nur um knallharte Risikoselektion.
Bättig: Das ist versicherungstechnisch lösbar. Man muss es nur wollen.
Biehler: Wenn Sie heute als Arbeitgeber die Pensionskasse oder Sammelstiftung wechseln wollen, dann haben wir das Problem, was mit den bestehenden Rentnern passiert. Keiner will die aufnehmen. Es gibt in der Schweiz kein bestehendes Modell für ein Auffangbecken einer Rentnerkasse. Das ist eine weitere Herausforderung.
Bättig: Sie sprechen genau die Punkte an, die es zu lösen gilt. Braucht es eine andere Organisation für die Rentner? Und dabei muss man auf die veränderte Verrentungsquote achten. Früher waren rund 60 Prozent auf das Kapital bezogen, heute liegen wir bei 40 Prozent. Ich bin ein ehemaliger Versicherer. Und jetzt muss ich Nestbeschmutzung betreiben, da hier zu wenig Transparenz und zu hohe Kosten die Regel sind. Da haben die Verantwortlichen einen schlechten Job gemacht…
Lutz: Und wo haben Sie einen guten Job gemacht? Sie haben die KMU in eine Vollkasko-Mentalität geführt. Aber auch das muss heute auf den Prüfstand.
Biehler: Einspruch. Das Vollkasko-Angebot der Versicherungen ist eine Mogelpackung, denn das Bundesgericht hat in einem Streitfall zugunsten einer Versicherungsgesellschaft entschieden, dass im Falle finanzieller Schwierigkeiten – sprich Unterdeckung – Sanierungsbeiträge erhoben werden dürfen. Wo ist hier die Vollkasko?
Lutz: Kommen wir am Schluss noch auf die praktische Ebene. Gibt es strategische Tipps, wie KMUler, die ja ihr Kernbusiness im Auge haben wollen, mit dieser doch komplexen Situation klarkommen?
Meyer: Es fehlt etwas in der Schweiz. Wenn ich mich als KMU-Verantwortlicher entscheiden will, welcher Versicherung oder Sammelstiftung ich mich anschliessen will, falle ich oft in die Hände von Brokern, die letztendlich nicht meine Interessen vertreten.
Es gibt wenig Neigung und kaum reales Bemühen, praktikable und unabhängige Vergleichsmöglichkeiten für KMU und die Versicherten zu schaffen. Die Konstrukte der Stiftungen und Versicherungen sind ja oft sehr unterschiedlich. Bisher hat das auch noch niemand finanziert. Das ist sehr bedauerlich, da es erst dann zu einem wirklichen Markt käme. Es werden auch dann nicht alle zum gleichen Anbieter rennen. Es gibt noch genügend Unterschiede zwischen Vorsorgeeinrichtungen. Die eine will etwas risikoreicher, die andere konservativer aufgestellt sein. In diesem Universum der Möglichkeiten muss es doch möglich sein zu erkennen, wer zu mir passt. Es gibt nur wenige qualifizierte Beratungsprozesse und keine Transparenz.Hier hat die Politik aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe zu lösen.
Baur: Wir müssen auch von der Ausbildungsseite noch einige Hausaufgaben machen. Ich will hier eine Lanze für Gesetzesdiskussionen brechen, die im Moment laufen, zum Beispiel für das FIDLEG. Hier werden Ausbildungsanforderungen für finanzberatende Personen endlich klar benannt. Parallel dazu hat die Versicherungsbranche ein Projekt mit dem Namen Cicero angestossen. Auch dort geht es um klare Qualifikationsmerkmale in der Vorsorge- oder Finanzberatung. Dieser Berufsstand kann durch diese Gesetzesvorlagen endlich bezüglich Expertise und Vertrauen einiges aufholen.
Meyer: Das ist bei den Stiftungsräten auch so. Ich bin ja selbst einer. Oft sitzen Personen in diesen Gremien, die kaum auf diese Aufgabe vorbereitet sind, aber die Macht besitzen mit Milliardensummen zu agieren. Die Professionalisierung auf allen Ebenen ist wichtig. Dabei müsste endlich die heilige Kuh des Milizsystems in der Vorsorge vom Sockel gestossen werden. Die Trennung von Verkauf und Beratung muss vorangetrieben werden. Da gehe ich noch einen Schritt weiter als Herr Baur.
Bianchi: Die fehlende Transparenz im System gilt es nochmals, klar zu benennen. Das ganze Feld der beruflichen Vorsorge, wir sprechen hier von 800 Milliarden, interessiert kaum jemanden in der Forschung.
Meyer: Das ist leider richtig. Auch an den Universitäten wird dazu kaum geforscht.
Lutz: Jetzt haben wir nochmals einen klaren Handlungsbedarf festgestellt. Danke für die spannende Diskussion.