Als Stratege und Leiter von Projektteams im Marketing sehe ich über die letzten Jahre einen problematischen Trend: Online-Marketing wird zunehmend zu einem Casino für Unternehmen. Mittlere und kleine Unternehmen sind auf einmal reihenweise bereit, Budgets in Online-Anzeigen, Suchmaschinenoptimierung oder Social Media zu stecken, um einmal zu schauen, was da so herauskommt. Oft wird dabei weder strategisch noch ganzheitlich geplant. Es wird arglos in AdWords, SEO, Social Media oder YouTube investiert, «weil das ja jetzt alle machen». Viele Unternehmen – auch solche mit eigener Marketingabteilung – gehen zu einer Agentur und denken sich: «Die machen das schon.» Ohne grosse Vorüberlegung und mit alten Gewohnheiten aus der Printwerbung geht man an die Sache heran: einfach das Budget auf den Tisch legen, die Vorschläge der Agentur Korrekturlesen und sie dann machen lassen …
Das Problem dabei: Kaum eine Agentur kann oder will es sich leisten, die Anfragen und Ideen ihrer Kunden kritisch zu hinterfragen. Das ist keine Charakterschwäche, sondern schlicht betriebsbedingt. Ein Kunde, der nach etwas fragt, bekommt es auch. Kaum eine Agentur fragt: «Aha, Sie wollen also AdWords-Anzeigen schalten? Das können wir schon machen. Aber kann sich das in Ihrem Fall wirklich auszahlen und ist das auch der beste Weg, um profitabel zu werben?»
So geschieht es, dass eine Investition getätigt wird, bei der niemand der Frage nachgegangen ist, ob sie sich überhaupt lohnen kann. Das ist kein Investment. Das ist reines Roulette.
Die Realität sieht aus unserer Warte inzwischen so aus: Jeder zweite Neukunde, der bei uns Marketing anfragt hat zuvor schon einmal oder mehrmals auf diese Weise fehlinvestiert und sucht mittlerweile nach einem Agenturpartner, der endlich individuell und ganz im Sinne seines Geschäfts berät, plant und ausführt. Solche Kunden suchen gezielt nach einer Agentur, die nicht verkaufend berät, sondern bei grundsätzlichen Marketingentscheidungen helfen kann. Die Fragen lauten dann nicht mehr: «Können Sie auch SEO?», sondern: «Was genau sollten wir tun? Wie viele von welchen Massnahmen und in welcher Reihenfolge sind eigentlich sinnvoll?»
Auch wenn die Digitalisierung inzwischen ein alter Hut sein sollte – der Agenturalltag zeigt, dass Unternehmen Marketing stärker unterschätzen als noch vor ein paar Jahren. Das liegt sicher mit an der Ermutigung, die über die Medien transportiert wird: Überall winken frischgebackene Online-Millionäre aus ihren Instagram-Accounts, 20-jährige Marketingexperten gestikulieren in Videos über «Funnels» und «Growth-Hacks», mit denen sie angeblich jedes Business nach oben katapultieren können, und Werbespots erzählen von WebsiteBaukästen und automatischen Marketingtools mit Künstlicher Intelligenz für nur 29 Schweizer Franken pro Monat. Auch die grossen Anbieter von Online- Anzeigen wie Google, LinkedIn und Facebook erwecken den Eindruck, dass Anzeigenschaltung ein Kinderspiel ist, das jedem mit ein wenig Münzgeld erfolgreich gelingen kann.
So entsteht das Empfinden, dass profitables Online-Marketing inzwischen bequem und für jeden zu haben ist. Man gibt sich also einen Ruck und investiert ein Jahresbudget in Massnahmen, deren Sinn und potenzielle Rentabilität für das eigene Business kaum oder gar nicht geprüft wurden.
Unternehmen mit dieser Erfahrung sind verständlicherweise frustriert, schaffen es aber mit strategischer Unterstützung und geschärften Zielen, diesen Trend in ihren eigenen Vorteil zu verwandeln. Denn – um im Bild des Casinos zu bleiben – die Gewinner im digitalen Marketing sind nicht die, die dem Herdentrieb folgen und an den trendigsten Spielautomaten ihre Münzen versenken. Die Gewinner sind diejenigen, die wohlüberlegt mit System und Disziplin die Spiele spielen, die sie auch gewinnen können.