Die aktuelle Krise stürzte viele Führungskräfte in eine Identitätskrise, denn plötzlich sind sie wieder als zupackende Macher beziehungsweise Manager und alleinige Entscheider gefragt. Das ist für viele ungewohnt.
Führungskräfte haben viele Funktionen – das macht ihre Aufgabe so herausfordernd und anspruchsvoll. Sie sind unter anderem Leader, Manager und Vorgesetzte.
Als Leader müssen Führungskräfte vermitteln, welche übergeordneten Ziele es bei der (Zusammen-)Arbeit zu erreichen gilt, und diese – unter anderem durch ihr Vorbild – dazu motivieren, sich für das Erreichen dieser Ziele zu engagieren.
Veränderte Führung
Als Manager müssen sie in ihrem Bereich die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen, dass die vorhandenen Ressourcen effektiv genutzt werden und ihr Bereich sicher seinen Beitrag zum Erreichen der Unternehmensziele leistet. Und: Als Vorgesetzte ihrer Mitarbeiter müssen sie dafür sorgen, dass diese wissen, was ihr Beitrag zum Erreichen der übergeordneten Ziele ist und diesen auch erbringen. Diese drei Rollen müssen Führungskräfte mal stärker, mal weniger stark wahrnehmen; letztlich muss sie jede Führungskraft in sich vereinen. Ändern sich die Rahmenbedingungen wie in der aktuellen CoronaKrise radikal, dann müssen die Führungskräfte ein verändertes Führungsverhalten zeigen, sprich, beim Führen einen anderen Fokus setzen als in «normalen» Zeiten. Das zeigt auch das jüngste Leadership-Trendbarometer, das das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ) Ende März, also drei, vier Wochen nach Ausbruch der Corona-Krise, in der DACHRegion durchführte.
Als Entscheider gefragt
Bei dieser Online-Befragung zum Thema Führung wollte das IFIDZ von den Teilnehmern wissen: «Was sind aus Ihrer Warte in der aktuellen Krise die grössten Herausforderungen für Führungskräfte?» Die Online-Befragung ergab: In der Krise sind die Führungskräfte vor allem als Entscheider sowie Steuerer ihrer Bereiche, also letztlich als Manager, gefragt; ausserdem als Persönlichkeiten, die ihren Mitarbeitern in der Krise Orientierung und Halt bieten.
So nannten die meisten der 217 Befragungsteilnehmer Ende März, also unmittelbar nach Beginn der Krise, als zentrale Herausforderung «Prioritätensetzung: schnell und richtig entscheiden in der Krise». 58 Prozent der Befragten wählten diese Antwortmöglichkeit – Mehrfachnennungen waren möglich. Kaum weniger – genauer gesagt: 54 Prozent – sahen als grosse Herausforderung «Strukturiert und fokussiert agieren in einem ‹instabilen Umfeld›», dicht gefolgt von der Herausforderung «Als Verantwortlicher trotz Krise Gelassenheit und Zuversicht vermitteln», was die Hälfte der Befragten angab.
Leader zeigen den Weg
Überraschend waren diese Ergebnisse nicht, denn: Wenn eine Krise wie die Corona-Krise sämtliche Strategien und Planungen der Unternehmen obsolet macht, ist es die erste Führungsaufgabe, die veränderte Situation zu reflektieren und die Prioritäten neu zu setzen: Ansonsten ist kein effektives Krisenmanagement möglich. Zugleich ist die Entscheidung «Wie reagieren wir auf die Krise?» die zentrale Voraussetzung, um als Leader trotz Krise eine relative Gelassenheit und Zuversicht auszustrahlen und den Mitarbeitern die gewünschte Orientierung und den nötigen Halt zu geben.
Diese veränderte Rolle adäquat wahrzunehmen, fällt vielen Führungskräften schwer. Das zeigte sich sowohl in Interviews, die das IFIDZ nach der OnlineBefragung mit ausgewählten Führungskräften führte, als auch in den (Online-) Coachings, die wir in den letzten Wochen durchführten – und zwar insbesondere den jüngeren Führungskräften.
Nachwuchs spürt Krise
Eine Erklärung ist aus IFIDZ-Sicht: Fast alle jungen Führungskräfte übernahmen ihre erste Führungsposition nach 2010, als die schlimmsten Folgen der Finanzkrise für die Unternehmen bereits überstanden waren. Sie waren bisher nur in Zeiten Führungskraft, in denen die Wirtschaft florierte und die meisten Unternehmen hohe Umsätze und Gewinne erzielten.
Ausserdem führten sie in einer Zeit, in der der Zeitgeist ihnen suggerierte: Führungskräfte sind primär Leader sowie Coaches, also Befähiger und Ermächtiger ihrer Mitarbeiter. Möglichst viele Entscheidungskompetenzen sollten auf die operative Ebene verlagert werden. Entscheidungen sollten weitgehend im Dialog mit den Mitarbeitern getroffen werden – auch um deren Motivation zu stimulieren.
Leader sind plötzlich Macher
Doch dann kam die Corona-Krise. Und plötzlich mussten viele Führungskräfte, die sich – überspitzt formuliert – soeben noch als gute Kumpels in Turnschuhen und Verfechter einer New-Work-Ideologie gerierten, weitgehend alleine solch weit reichende Entscheidungen treffen wie: Wir schicken Mitarbeiter in Kurzarbeit, weil die Aufträge weggebrochen sind. Zudem legen wir Projekte, die noch gestern als strategisch wichtig galten, auf Eis, weil krisenbedingt die Prioritäten neu gesetzt und Kosten eingespart werden müssen. Nur so kann die Liquidität und somit die Existenz des Unternehmens gesichert werden.
Dieses Umswitchen stürzte viele Führungskräfte in eine Identitätskrise, weil es mit ihrem Selbstbild als Führungskraft kollidierte. Nicht wenige Führungskräfte erachteten das weitgehend alleinige Topdown-Entscheiden als Ausdruck eines autoritären Verhaltens beziehungsweise eines autoritären Führungsstils, den sie eigentlich nicht praktizieren möchten und befürchten: Hierdurch wird meine bislang gute Beziehung zu meinen Mitarbeitern nachhaltig gestört.
Klare top-down-Vorgaben
Doch ist das entschiedene Treffen nötiger Entscheidungen Ausdruck eines autoritären Führungsstils oder -verhaltens? Eindeutig nein! Indem Führungskräfte dies tun, nehmen sie nur ihre Kernaufgabe in ihrer Organisation wahr. Sie lautet: sicherstellen, dass ihr Bereich seinen Beitrag zum Erfolg beziehungsweise zur Sicherung der Existenz des Unternehmens leistet und dazu, dass dieses unter den geänderten Rahmenbedingungen seine Ziele soweit möglich erreicht. Nehmen die Mitarbeiter es ihren Vorgesetzten übel, wenn sie über Nacht weitgehend alleine, so weit reichende und nicht selten schmerzhafte Entscheidungen treffen? Nein, ganz im Gegenteil – das zeigen die Interviews, die wir mit Mitarbeitern führten: Sie erwarten von ihren Führungskräften, dass sie in einer Krisensituation das Ruder fest in die Hand nehmen, denn auch ihnen ist bewusst, dass eine Krise ein rasches und entschlossenes Reagieren fordert und gewisse harte Entscheidungen nicht im Dialog getroffen werden können.
Insofern erachten sie das rasche und zupackende Entscheiden eher als ein Zeichen von Führungsstärke und festigt dies ihr Vertrauen in ihre Führung, da ihnen die Entscheidungen einen Weg aufzeigen, wie die Krise gemeistert beziehungsweise minimiert werden kann.
Führung mehr gefragt in Krisen
Dessen ungeachtet bereitet dieser Rollenwechsel vielen Führungskräften Schwierigkeiten. Dies kann so interpretiert werden, dass den Führungsnachwuchskräften in den Führungskräfteentwicklungsprogrammen vieler Unternehmen nicht oder nicht nachhaltig genug vermittelt wurde, dass jede Führungskraft nicht nur Leader, sondern zugleich Manager und disziplinarischer Vorgesetzter ihrer Mitarbeiter ist und dass es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn Führungskräfte situationsabhängig zuweilen ein teils konträres Führungsverhalten zeigen. Vielmehr nehmen sie genau hierdurch ihre Funktion in der Organisation wahr.
Auf alle Fälle machte die aktuelle Krise schlagartig deutlich, wie realitätsfern so manche Managementdiskussion in den letzten Jahren war – so zum Beispiel die Diskussion darüber, inwieweit Führung künftig in den Unternehmen überhaupt noch nötig sei.
Krise lässt Führungskräfte reifen
In der Krise zeigt sich: Führungskräfte, die sich als Entscheider und Macher verstehen, sind für den Erfolg unverzichtbar, denn ansonsten können sie ihren Mitarbeitern weder den Rahmen und die Zielsetzungen für ihr Handeln vorgeben, noch ihnen die von ihnen gewünschte und nötige Orientierung bieten.
Wie im Arbeitsalltag der Mix aus Topdown- und Bottom-up-Entscheidungen aussieht, müssen die Führungskräfte situationsabhängig entscheiden. Dies setzt reife Führungspersönlichkeiten mit einer hohen Verhaltensflexibilität, jedoch einem stabilen Wertesystem voraus. Diese gilt es zu entwickeln, sofern sie nicht in den Unternehmen gerade heranreifen.