Das Horrorszenario liegt auf dem Tisch: ein Cyberangriff auf Kraftwerke, der die Stromversorgung über mehrere Tage lahmlegt. Kommunikation Transport, Verkehr, Heizungen, Gesundheit … Es würde sehr schnell vieles zum Erliegen kommen. ICT-Experte Fridel Rickenbacher beleuchtet die Situation, die weit über ein solches Szenario hinausgeht.
Harry Gordon, Frankfurt, ist US-amerikanischer Philosoph und hat es auf den Punkt gebracht. «One of the most salient features of our Culture is that that there is so much bullshit. Everyone knows this. Each of us contributes his share.» In seinem Verständnis sind wir mit zu vielen und falschen Informationen überflutet und manipuliert. Und im Wissen dessen verbreiten wir trotzdem, mitunter in einer schier erschreckenden Systemgläubigkeit, solche Informationen oder nehmen sie als bare Münze.
Die andere Ausprägung dieser informationstechnischen Negativ-Entwicklung der Verbreitung von Unwahrheiten ist die Verweigerung und Bestreitung von Wahrheiten. Die unverschämte Dreistigkeit, mit der heute eindeutige Fakten zum Streitbaren erklärt werden, wenn einem die Realität nicht passt, ist kaum zu verstehen oder auszuhalten. Aus unbequemen Fakten werden dreist bestrittene alternative Fakten («alternative facts»), wie wir es speziell seit den letzten US-Präsidentenwahlen kennenlernen durften. Diese Art von Politik und Informationsverbreitung kennen wir auch in der Schweiz. Es gibt viele aktuelle Beispiele in der regionalen oder nationalen Medien- und Politiklandschaft. Speziell auch in Abstimmungs- und Wahlphasen, auch hier mit Defiziten in der in «Revival» befindlichen Informations-Ethik. Man lebt und kommuniziert in einer Blase, für die Reflektionen nicht ins Weltbild passen und jeder sich seine eigene Wahrheit basteln darf. Gerne lässt man diese durch das Netz bestätigen. Andere Wahrheiten akzeptiert man bestenfalls unbeachtet neben sich.
Mehrere Wahrheiten nebeneinander
Was man früher allenfalls der Prawda in Moskau zugetraut hatte, ist nun auch hierzulande ein Erfolg versprechendes Kommunikationsrezept: Sobald ein unvorteilhaftes Faktum auftaucht, behauptet man unverschämt das Gegenteil, verbreitet es überall und überall energisch und vertraut darauf, dass Faktum und Antifaktum, dass Fakt und Fake sich gegenseitig annihilieren und im schlimmsten Fall eine Wolke konfuser Vorwürfe und ein sehr begrenzter Schaden übrigbleibt. Was viele Leute konsterniert hat, ist die Erfahrung, dass Maschinen (Algorithmen, Bots, Code) Fake produzieren und wie viele Menschen sie damit erstaunlich erfolgreich täuschen können. Und dass der alte Satz «Kollektiver Hass ist kein spontanes Phänomen, er ist ein Fabrikat» damit eine ganz neue Bedeutung erhält. Plötzlich wird deutlich, dass wir Bürgerinnen und Bürger von irgendwelchen Diktatoren oder Unternehmen, Tausende Kilometer entfernt, genauso gut oder vielleicht noch besser erreicht und manipuliert werden als von der eigenen Meinung oder Regierung. Walter Thurnherr ist Bundeskanzler der Schweizer Eidgenossenschaft und fasst diese Entwicklung so zusammen: «Das Bedenkliche ist, dass Faktenverweigerung Schule macht.» Durch unsere schier uneingeschränkte Systemgläubigkeit im Tsunami den von uns Tag und Nacht durchwachsenen Informationen – wie Medien, E-Mail, Social Media oder Internet – lassen wir uns tendenziös manipulieren und auch zunehmend verunsichern. Die Suche nach der Wahrheit in allen diesen Informationen kann zur bekannten, aber zunehmend aussichtslosen Suche der «Nadel im Heuhaufen» führen. Andererseits verlieren wir durch solche Fehlentwicklungen auch letztlich zunehmend unsere persönliche und letztlich auch staatliche Cyber-Souveränität.
Der neue Kriegsschauplatz
Die technologischen (R)Evolutionen der letzten 20 Jahre haben sich um einiges schneller entwickelt als wir selber oder gar bald mitunter als uns gar lieb ist. Trotzdem müssen die zu unterstützenden Bürger und die Staaten entsprechende Wege und auch internationale Lösungen und Kooperationen aufbauen, um auch die Cyber-Souveränität aufbauen und halten zu können.
Im Zuge der Cyber-Kriminalität und dem neuen Kriegsschauplatz von CyberSecurity ist die möglichst hohe Souveränität von entscheidender Bedeutung in den nächsten Dekaden des Staats-Wettbewerbs und Zeitalters von Künstlicher Intelligenz KI / AI, Maschinen / Roboter und «cyberphysical systems». Es gab Zeiten, wo die Staaten den nicht erreichbaren Anspruch hatten, den CyberRaum / das Internet zu beherrschen. Mittlerweile ist es bereits schon ein Erfolg und ambitioniertes Ziel, eine möglichst gute Cyber-Souveränität aufbauen und verteidigen zu können. Internationale Bemühungen, eine Art von «digitaler Genfer Konvention» und anderen Vorstössen, zum Beispiel in Form von «Mr. / Mrs. Cyber, in Bundesbern» zu entwickeln, könnten helfen, dass Staaten, Forschung, Bildung und Industriepartner in solchen übergeordneten gemeinsamen Interessen nachhaltige Optimierungen aufbauen können. Es gilt, nicht nur personenbezogene Daten der Bürger besser zu schützen, wie zum Beispiel bei «privacy by design / by default», sondern auch viele systemkritische Infrastrukturen und Systeme wie die Stromversorgung, Kraftwerke, Staudämme, Bankensysteme, Verkehrssysteme oder auch Anti-Terror-Systeme. Der virtuelle Raum ist heute ein brodelnder Konfliktplatz unterhalb der latenten Kriegsschwelle, auf dem sich – nebst kriminellen Organisationen – vermehrt auch staatliche Akteure und Saboteure ihren Platz erkämpfen. Ein Werkzeug der konkreten Umsetzung heisst hier «Staatstrojaner». Früher agierten die digitalen Schlapphüte meist im Geheimen, heute zunehmend offen und auch hier basierend auf «alternativen Fakten» gegenüber der effektiven Notwendigkeit und Hintergründe.
Zudem haben sich die Bedrohungsszenarien ausgeweitet. Ein Krieg, der mit einer Cyberattacke beginnt oder / und ihn begleitet, ist kein Science-Fiction-Szenario mehr. Leon Panetta bedient sich als ehemaliger Verteidigungsmister der USA wirkungsmächtig aus dem Fundus der US-Geschichte. «Unser nächstes Pearl Harbor könnte eine Cyberattacke sein, die unsere Versorgungsnetze, unser Sicherheitssystem und unser Finanzsystem ruinieren.»
Das Reduit ist Vergangenheit
Ein gutes Mass an Cyber-Souveränität als staatliche Aufgabe, Informationshoheit und besser austarierte Systemgläubigkeit könnten hier und generell in der Weiterentwicklung der Digitalisierung entsprechend in mehreren Kontexten helfen. Die digitale Selbstbestimmung der Schweiz und der Bürger ist relevant für die Zukunft. Sich auf die nationale Ebene zurückzuziehen und das internationale Feld anderen zu überlassen, würde die Schweiz in der Zukunft wesentlich teurer zu stehen kommen und die Verwundbarkeit der Schweiz erhöhen. Verschiedene Staaten haben deshalb Cyber-Strategien verabschiedet, welche der eigenen digitalen Verwundbarkeit zugunsten der existenziellen staatlichen Aufgaben entgegenwirken sollen. Hoffentlich gehört dazu auch wieder zunehmend eine gute Portion an gesundem Menschenverstand und Skepsis – mit kritischem Denken und Hinterfragen angereichert. Jedoch sollte uns auch klar sein, dass dieser gesunde Menschenverstand im Rahmen des internationalen Informationsraums sich bewegen muss. Die angestrebte Cyber-Souveränität ist mit einem erneuten «Rückzug ins Schweizer Reduit» nicht mehr möglich und nicht mehr zu verantworten. Der entsprechend nötige «Stand der Technik» ist längstens nicht mehr nur noch im «Schweizer Reduit» zu finden und weiterzuentwickeln.