Man rennt inzwischen viele offene Türen ein, wenn man von einer Krise in Europa spricht. Das ist auch nichts unbedingt Neues. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise 2008/09 haben jedoch zu einer Eskalation der Widersprüche geführt. Die Integrationskraft, das grosse historische Verdienst der EU, droht zu zerbröseln. Eine kleine Bestandsaufnahme der Krisenszenarien ist notwendig.
Von:Georg Lutz
Gerade in der Schweiz sind viele ermüdet vom Krisengerede vieler Europäer. Nicht nur in der Schweiz, auch in den nördlichen EU-Staaten brummt die Wirtschaft wieder. Gerne wird auch auf die boomenden Schwellenländer verwiesen. Klar, Griechen und Spanier können kaum mehr konsumieren, dafür tun es eben die Brasilianer oder Chinesen. Jüngst hat der IWF der Weltwirtschaft im nächsten Jahr 3,6 Prozent mehr Wachstum versprochen. Können wir uns zurücklehnen? Nein, sicher nicht. Zwei Beispiele, kurz angerissen, belegen dies.
Die Defizite in den USA sind schwindelerregend. Wenn es in den nächsten Wochen den Republikanern und Demokraten nicht gelingt, einen Haushaltskompromiss auf die Beine zu stellen, stürzen die USA mit einem Fiscal Cliff über die Haushaltsklippe. Dann droht den USA 2013 die Rezession.
Die Eurozone steckt schon in einer Rezession. Den südlichen Ländern droht eine ganze Generation von Jugendlichen verloren zu gehen. Die Arbeitslosenraten in Spanien, Griechenland und Italien sind skandalös. Bisher wollten sich die politisch Verantwortlichen vor nachhaltigen Rettungsaktionen drücken. Lange haben die Exportnationen wie Deutschland ja von der Situation profitiert. Griechenland kann aber nicht weiter. Eine scharfe Haushaltskonsolidierung allein bringt dem gebeutelten Land seine Wettbewerbsfähigkeit nicht wieder. Es taumelt in eine immer schlimmere Depression. Nicht nur die deutsche Regierung wird einsehen müssen, dass Rettung auch etwas kostet. Ein zweiter Schuldenschnitt, welchen Namen er auch immer tragen wird, wird kommen.
Mögliche positive makroökonomische Szenarien könnten stichwortartig so beschrieben werden: Die Europäischen Regierungschefs verständigen sich auf eine Bankenunion und ebnen den Weg in eine Fiskalunion. Gleichzeitig hilft die EZB mit ermässigten Zinsen und kauft weiter Schuldpapiere von klammen Eurostaaten, damit diese sich überhaupt refinanzieren können. Das wäre kein Wunschkonzert, aber eine Grundlage, die ruhiges Handeln ermöglichen würde. Viel wahrscheinlicher ist aber ein weiteres hektisches Durchwursteln.
Demokratieproblem im Hintergrund
Das Agieren ohne erkennbares Ziel hat aber einen fast schon tragischen Hintergrund. Europa hat wegen seiner mangelnden Transparenz und Gewaltenteilung schon seit Jahren ein Demokratiedefizit. Wer heute in Paris oder Berlin als Regierungschef das Flugzeug besteigt, mutiert in Brüssel zum Rat der EU. Dort verkörpert man die EU-Legislative. Bei der Rückkehr in die Hauptstädte mutieren sie zurück zur nationalen Exekutive. Sie setzen dann das um, was sie selbst beschlossen haben. Gleichzeitig gibt man in Sonntags- und Wahlkampfreden den nationalistischen Populisten, der den Bürokraten in Brüssel richtig einheizt. Das konnte und kann nicht gut gehen. In den letzten Jahren wurden viele nationale Gesetze in Europa vergemeinschaftet. Gleichzeitig hat das EU-Parlament aber immer noch weniger Rechte wie nationale Parlamente. Der EU-Frust war und ist vorprogrammiert.
Versagen der Eliten
Frustration herrscht auch über die Schuldenpolitik. Das kann bei Staaten, im Gegensatz zu einem Privathaushalt, sehr wichtig sein. Das hat uns John Maynard Keynes gelernt. Nur müssen die Schulden in guten Zeiten auch zurückbezahlt werden. Genau dies passiert aber sehr selten. Nicht langfristige Politik, sondern der nächste Wahltermin steht im Fokus. Politiker in unseren westlichen Demokratien sichern ihre politische Karriere durch schuldenfinanzierte Wahlversprechen. Griechenland ist da nur ein Extrembeispiel. Auf der einen Seite werden Steuern und Abgaben nicht in dem Masse erhöht, das zur Finanzierung von Sozial- und Infrastrukturprojekten nötig ist, und andererseits wird die Umverteilung laufend erhöht. Gleichzeitig weitet sich auch noch die soziale Schere in den Gesellschaften der EU. Mittlere Einkommensverdiener sind heute eine bedrohte Spezies.
Zudem entsteht nicht nur in der EU eine Beamtenoligarchie, die inflationsindexierte Pensionsansprüche und Lohnerhöhungen erhält, während die Altersvorsorge der restlichen Bevölkerung zur Finanzierung der Defizite herangezogen wird. Man kann auch von schleichender Enteignung sprechen.
In dieser Situation gewinnen schnell populistische Argumente, die schnelle Lösungen vorgaukeln, Oberhand. Zum Glück ist dies bislang noch nicht voll auf die Parteienlandschaft durchgeschlagen. Die Situation in Frankreich, bei der sich die bürgerliche Rechte gerade zerlegt und der Front National immer mehr Oberwasser bekommt, sollte aber ein Alarmsignal sein.
Erfolge und Misserfolge
Die Finanzbranche war der Auslöser der Krise von vor sechs Jahren. Inzwischen, das sind die Auswirkungen in der Schweiz, hat sich die Finanzbranche auf eine Weissgeldstrategie verpflichtet. Mehr als sanfter Druck aus den USA mag da eine Rolle gespielt haben. Sie kämpft aber immer noch um ihre Reputation und steht vor vielfältigen Umwälzungen. International hat sich mit dem grösseren Regulierungsbedürfnis nach der Finanzkrise ein Schattenbanksystem herausgebildet. Es agiert ausserhalb der Kontrollinstanzen und macht quantitativ ein Viertel der Geldvolumen aus. Schon wieder drohen destabilisierende Szenarien. Das betrifft diesmal die EU und die Schweiz. Auch die angekündigte schärfere Kontrolle ist nur in Teilen eingetreten. Die Eigenkapitalregeln, genannt Basel III sind der Kernpunkt aller weltweiten Regulierungsabsichten. Sie stehen jetzt auf der Kippe. Eigentlich sollten sie im Januar 2013 in Kraft treten. Die Finanzlobby hat aber offensichtlich Druck gemacht. Der Sommer 2013 steht als neuer vager Termin im Kalender. Ohne Gegendruck wird sich da kaum etwas bewegen.
An welcher Stelle zeigen sich beispielhafte Erfolge? Werfen wir einen Blick auf Lateinamerika. Argentinien stand wie Griechenland 2002 vor dem Bankrott. Es hat einen Schuldenschnitt gemacht, sich nicht an die Vorgaben des IWF und anderer Kreditgeber gehalten und auf einem sehr niedrigen Niveau wieder angefangen, wirtschaftliche Strukturen aufzubauen, die in den neunziger Jahren alle zerschlagen wurden. Heute stellt sich die spannende Frage: Was kann Griechenland von Argentinien lernen?
Auf jeden Fall ist auch die Strategie, mit viel öffentlichem Geld Banken zu retten, an Grenzen gestossen. Auch hier lohnt ein Blick nach Spanien und anderen südlichen Ländern der Eurozone. Die Geldhäuser denken gar nicht daran, Konsum und Wirtschaft wieder anzuwerfen. Sie sanieren mit dem staatlichen Geld ihre Kapitaldecken. Wer als Privatkunde seine Kredite nicht bezahlen kann, hat mit drakonischen Strafen zu rechnen.
Ein Armutszeugnis
Das führt uns zur Kundenseite. Auch diese hat zu leiden. Grundsätzlich nimmt eine Bank Einlagen herein und arbeitet mit diesen, zum Beispiel, indem sie Unternehmen Darlehen gibt. Davon hat man sich jedoch weit entfernt. Heute kauft der Kunde Wertpapiere bei seiner Bank und legt diese in sein Depot. Schon daran verdient die Bank eine hohe Marge bei der Vermögensverwaltung und der Produktherstellung (zwei bis drei Prozent peraanno). Der Depotauszug ist jedoch nicht mehr als ein Stück Papier. Ob ihre Bank den Kauf ihrer Nestlé-Aktien tatsächlich oder nur virtuell ausgeführt hat, wissen Sie nicht. Sie wissen auch nicht, ob ihre Aktien für den Eigenhandel verliehen worden sind. Damit vertrauen Sie einem Unternehmen mit circa fünf Prozent Eigenkapital und Goodwill in der Bilanz (= höher als Eigenkapital!!!) ihr Vermögen an und lassen es damit spekulieren. Im Konkursfall der Bank haben sie zwar einen Herausgabeanspruch (= Separierung der Assets). Doch wo nichts ist, kann man auch nichts holen. Somit greift die Einlagensicherung, die von den anderen finanziell ähnlich potenten Banken finanziert wird. Das braucht keinen Kommentar mehr.
Die Folgen sind in Teilen absurd. Alles, was Geld hat, stürzt sich auf Immobilien. Im Hochpreissegment droht auch in der Schweiz eine Blase. Andere investieren in Gold und legen es in Lagerstätten ausserhalb des Bankensystems an. In der Schweiz gibt es inzwischen mehrere erfolgreiche Geschäftsmodelle, bei denen der betuchte Anleger sein Geld in ehemaligen Militärbunkern in den Alpen einlagern kann. Das hat nichts mit Verschwörungstheorien und dem Mayakalender zu tun, sondern ist ein Armutszeugnis für die Finanzbranche der Schweiz.
Fehlende Ethik
Der zentrale Punkt betrifft aber eine Verhaltensänderung der wirtschaftspolitischen Eliten. Die Akteure, deren Mütter und Väter die soziale Marktwirtschaft entwickelt haben, sollten über den Begriff der Verantwortung nachdenken, Verantwortung fürs eigene Tun. Ökonomen-Klassiker wie David Hume oder Adam Smith, die ja auch Philosophen waren, haben das getan. Heute fehlen uns solche Akteure.
Georg Lutz ist Chefredaktor der kmu RUNDSCHAU.
Die Tage in Europa sind neblig geworden.
Demokratiedefizite in Brüssel
Kurzfristige Wahlversprechen statt nachhaltiger Strategien.