2019 wurden für das Internet of Things kühne und vielversprechende Thesen verkündet. Die Corona-Pandemie macht diese Vorhersagen null und nichtig. Wir wagen den Blick in die Zukunft – mit Covid-19.
Das amerikanische Telekommunikationsunternehmen Verizon, das auch zu unseren Kunden gehört, gibt sich unbeeindruckt, wenn es um die Zukunft geht: Es plant, sein 5G-Netz bis Ende des Jahres noch auf 60 US-Städte auszuweiten. In Europa und besonders Grossbritannien sieht die Lage dagegen anders aus. Hier wird die Pandemie, aber auch politischer Gegenwind gegen den chinesischen Huawei-Konzern, den Ausbau vermutlich deutlich verlangsamen. Obwohl Unternehmen mehr als bereit sind, beispielsweise für Remote Maintenance, in 5G zu investieren. 5G ist jedoch essenziell für das Internet der Dinge. Ohne eine effiziente Infrastruktur ist die Zukunft von IoT-Lösungen, die grosse Datenmengen verarbeiten – beispielsweise bei Überwachungskameras in Smart Cities, Industrierobotern oder selbstlernenden Smart-Home-Geräten, ungewiss. Die globale Logistikindustrie, der durch Sperrungen wöchentlich 350 Millionen Dollar verloren gehen, wird nun kaum in Blockchain-IoTSysteme zur Frachtverfolgung investieren. Und während die Verkäufe von intelligenten Lautsprechern, Wearables und smarten Audiogeräte in diesem Jahr voraussichtlich um 9.8 Prozent wachsen werden, werden die meisten Anbieter von IoT-Systemen für Endverbraucher ihren Schwerpunkt auf gängige Kommunikations- und Unterhaltungstechnologie verlagern müssen, um ihre Umsatzziele zu erreichen.
IT-Ausgaben gehen zurück
Vor der Coronakrise war der Business-IoTMarkt in einem stetigen Tempo gewachsen. Die Mehrheit der Unternehmen war von der IoT-Projektplanung zur Implementierung übergegangen und erhöhte die IoT-Investitionen um 20 Prozent.
Durch Covid-19 rutschte die Weltwirtschaft in rasender Geschwindigkeit in eine Rezession. Dieses Jahr werden sich die Unternehmen darauf konzentrieren, negative Cashflows wiederherzustellen, Personalkosten zu halten oder gar zu senken und die Investitionsausgaben anzupassen. Laut der International Data Corporation (IDC) wird die Krise zu einem Rückgang der weltweiten IT-Ausgaben um 2.7 bis fünf Prozent führen. Da sich die Unternehmen bei den kurzfristigen Infrastrukturinvestitionen zurückziehen, werden Projekte im Hardware-Bereich die stärksten Einschnitte erfahren. SoftwareLösungen hingegen werden, so die Schätzungen, ein bescheidenes Wachstum von zwei Prozent aufweisen, was durch die steigende Nachfrage nach Werkzeugen nagement-Software und Cloud-Lösungen getrieben wird.
Versorgungsketten im Chaos
Aufgrund des Shutdowns und der übermässigen Abhängigkeit von Chinas Produktionsmacht berichten 75 Prozent der Unternehmen von Unterbrechungen in der Lieferkette. Schätzungen besagen, dass der Ausbruch des Coronavirus bereits zu einem Rückgang der Smartphone-Produktion um zwölf Prozent geführt hat, während Smartwatch-Marken einen Rückgang von etwa 16 Prozent verzeichneten. IoT wird länger auf die Versorgung mit Chips, Sensoren und Entwicklungsplatinen warten müssen als andere Geschäftsbereiche. Das Ergebnis: Es braucht einen neuen Multivendor- und Multi-LocationAnsatz, bei dem zum Beispiel auch Startups oder mittelständische Unternehmen an der Produktion von Hardware-Komponenten beteiligt werden.
Man liest und hört es bereits jetzt häufig, dass Unternehmen erwägen, Produktionsstätten aus China weg zu verlagern. Die Wistron Corporation, einer der Fertigungspartner von Apple, hat bereits Pläne geäussert, iPhone-Komponenten in einem neuen Werk in Indien zu montieren, während Google mit der Produktion von Smart-Home-Produkten in Thailand beginnen soll. Aber auch andere Regionen in der Welt wie Nordafrika oder Osteuropa sind im Gespräch.
In schlechter Verfassung
Laut einer Umfrage von YouGov gaben 38 Prozent der Deutschen an, dass die Corona-Krise eine grosse persönliche finanzielle Unsicherheit für sie bedeute. Infolgedessen haben die Verbraucher ihre Ausgaben für Kleidung, Schönheitsprodukte und Unterhaltungselektronik – mit Ausnahme von Heimunterhaltungsgeräten – gekürzt.
Auch andere Indikatoren zeigen, dass IoT für Verbraucher kein Trendthema ist: Apps für IoT-Lösungen im Konsumentenbereich werden nicht mehr so häufig heruntergeladen. Die Philips-Hue-Anwendung zum Beispiel ist seit Februar um 30 Plätze in der US Lifestyle iOS Apps-Chart gefallen. Und Analysten erwarten, dass die Verkäufe von Smart Home bis Ende dieses Jahres um 20 Prozent zurückgehen werden.
Der Gadget-Bereich ist also gerade nicht die treibende Kraft für IoT. Industrie 4.0- und IoT-Unternehmen punkten stattdessen dort, wo ihre Fähigkeiten die gegenwärtigen ökonomischen und gesundheitlichen ITProbleme angehen können.
Wer ist im Aufwärtstrend?
Selbstverständlich sind nicht alle Branchen im freien Fall. Einige erleben einen nie dagewesenen Aufwind. Da wäre zum einen das Internet der medizinischen Dinge. Neben Telemedizin- und Patientenfernüberwachungssystemen (RPM), deren Nutzung im letzten Monat um 50 Prozent gestiegen ist, wenden sich Gesundheitsdienstleister und digitale Gesundheitsunternehmen an IoT- und KI-basierte Analyselösungen, um die Covid-19-Pandemie zu bewältigen. Forscher aus Kalifornien speisen Temperatur-, Herzschlag- und allgemeine Daten zur körperlichen Aktivität, die über tragbare Geräte gesammelt wurden, in Algorithmen für maschinelles Lernen ein, um eine weitere Ausbreitung des Virus in den betroffenen Gebieten zu verhindern.
Spezialisten der University of Massachusetts Amherst (UMass) haben ein massgeschneidertes Gerät entwickelt, das auf einer Raspberry-Pi-Platine und der Intel-Movidius-2-Neural-Computing-Engine basiert. Das IoT-Gadget hilft bei der Erkennung von Personen mit grippeähnlichen Symptomen in einer Menschenmenge, indem es Husten von anderen Geräuschen unterscheidet. Tragbare Geräte können auch dazu beitragen, die Arbeitsbelastung zu verringern und die Effizienz des Krankenhauspersonals zu steigern. Dazu könnten Patienten, die keine Covid-19-Symptome aufweisen, die Vitalparameter zu Hause mit tragbaren Geräten messen und die Daten sicher an Krankenhäuser senden.
Digital twins und IIoT
Auch industrielles Internet der Dinge (IIoT) ist auf dem Vormarsch. Wurde 2019 die Automatisierung noch als Job-Killer in der Fabrik angesehen. Heute greifen Hersteller auf das IIoT zurück, um Anlagen und Produktionsstätten aus der Ferne zu überwachen und ungeplante Ausfallzeiten zu verhindern. Laut Mark Muro, Senior Fellow und Policy Director bei der Brookings Institution, werden Investitionen in die Automatisierung häufig in Krisenzeiten getätigt. Innovationen werden mit Blick auf Kosten umgesetzt – das kann für den Industriesektor bedeuten, alte Maschinen mithilfe von intelligenten Sensoren, Verbindungstechnologien und Cloud-basierten Analyselösungen nachzurüsten.
Digitale Zwillinge (Digital Twins) sind physische Kopien von Objekten aus der realen Welt: Geräte, Fabriken und sogar Städte. Um einen Digital Twin zu erstellen, verarbeiten Entwickler Sensordaten in der Cloud und visualisieren sie mithilfe von Dashboards oder Extended Reality. Die Technologie könnte Unternehmen möglicherweise dabei helfen, widerstandsfähige Lieferketten zu schaffen, neuartige IoTProdukte zu entwerfen und Fertigungsprozesse zu modellieren.
Das Biokomplexitätsinstitut der Universität von Virginia hat zum Beispiel eine KI-Plattform entwickelt, die städtische Umgebungen simuliert. Das britische Transport-Unternehmen Alstom hat mit der führenden deutschen Firma auf dem Gebiet, SimPlan, einen digitalen Zwilling für das Flottenmanagement einer britischen Zugstrecke erstellt. Ein weiteres Beispiel kommt von Unlearn.AI, einem Technologie-Start-up, das «digitale Zwillings»Profile von Patienten klinischer Studien erstellt und in seiner Serie-A-Runde zwölf Millionen Dollar gesammelt hat.
Drohnen im Aufschwung
Im Jahr 2020 sind neue Anwendungsfälle für unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) aufgetaucht. China setzt Drohnen erfolgreich ein, um medizinische Proben zu transportieren, Desinfektionsmittel auf den Strassen zu versprühen und Bürger aufzuspüren, die die Quarantänevorschriften missachten. Polizeibehörden in den USA setzen Überwachungsdrohnen ein, um in Gebieten, die für Streifenwagen unzugänglich sind, soziale Distanzierung durchzusetzen. Landwirte greifen auf Drohnen und GPS-Technologie zurück, um ihre Ernten zu überwachen und bessere Entscheidungen über Neuanpflanzungen zu treffen. Aber es sind die Drohnen, die den grössten Schritt nach vorn gemacht haben. Zipline, ein in Kalifornien ansässiges Unternehmen für die Lieferung von Drohnen, hilft der Republik Ghana bei der Beurteilung der Verbreitung von Covid-19, indem es in ländlichen Gebieten gesammelte Testproben an medizinische Labors in den beiden grössten Städten des Landes liefert. Dies ist das erste Mal, dass UAVs für regelmässige Langstreckenlieferungen in städtischen Gebieten eingesetzt werden. In Deutschland ist ein solcher Einsatz bislang eher die Ausnahme, aber die EU zeigt sich mittlerweile offener für Drohnen im Luftraum.
Lösungen werden gefunden
Jüngste Studien zeigen, dass 57 Prozent der angeschlossenen Geräte für Angriffe anfällig sind, während 98 Prozent des gesamten IoT-Verkehrs unverschlüsselt bleiben. Medizinische Hightech-Geräte erweisen sich als ein leichtes Ziel für Cyberkriminelle, und 8 Prozent der Krankenhäuser, die IoT-Lösungen einsetzen, haben in den letzten zwölf Monaten mindestens einen Angriff erlebt. Um dieses Problem zu lösen, können IoT-Anbieter KI-Algorithmen verwenden, um die IT-Infrastrukturen von Krankenhäusern kontinuierlich zu scannen, OTA-Firmware-Updates auf Geräten mit kleinerem Hardware-Footprint zu erzwingen und Cloud-basierte Sicherheitsüberwachungstools zu nutzen. Das ist der Grund, warum dem globalen Markt für das Internet der Dinge auch weiterhin Wachstumspotenzial zugeschrieben wird. Es gibt Anzeichen dafür, dass die rückläufige Nachfrage nach IoT-Lösungen in der Automobil-, Logistik- und Unterhaltungselektronikbranche nur von kurzer Dauer ist und die digitale Transformation der traditionell analogen Industrien am Ende eher beschleunigt wird.