Die Qualität der Langsamkeit scheint heute verloren gegangen zu sein. Das Buch «Viva!» von Werner Aebischer führt uns in die Welten der Langsamkeit, des Erkennens und Reflektierens.
Wir Businessmenschen sind im Dauerstress. KMU-Verantwortungsträger können heute nicht mehr Frühstücksdirektoren sein, die um drei Uhr nachmittags auf dem Golfplatz agieren. Auch der klassische Patron hat ausgedient. Heute sind Chefs eher agile Moderatoren, die ihr Team auf der Spur halten, aber oft schlicht überfordert sind. Manchmal kommt man aus dem Hamsterrad des Alltags gar nicht mehr raus. Es braucht aber Pausen – ja ein Innehalten, um die wahren Werte und wichtigen Situationen im Leben erkennen, nutzen und geniessen zu können.
«Viva!» ist ein Buch, welches hier weiterhilft. Der Autor Werner Aebischer ist ein Flaneur aus Basel. Flanieren ist die gemächliche Fortbewegung in der Stadt, mit dem Ziel, den Alltag, die Personen und Situationen in ihm genau beobachten und skizzieren zu können. Aus seinen Spaziergängen entwickelt der Autor Reflektionen, die sich wie in einem Heimkino im Kopf zusammensetzen. Er streift durch Basel, aber auch durch seine Vergangenheit, zum Beispiel der bäuerlichen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz. «Als Fussgänger bin ich langsam und habe Zeit genug, mich anregen zu lassen.»
Der Buchtitel «Viva!» spiegelt positive Gefühle – die «VIVA!Stimmung!». In einer Bar trifft er auf das Gefühl des Blues, greift zur Gitarre und klinkt sich in die Blues-Leiter der Mitspielerinnen und Mitspieler ein. Martin, der Fährmaa der Fähre «Wild Maa», passt gut in dieses Lebensgefühl. Mit ihm gönnt er sich öfters ein leckeres Mittagessen. Das Holztor zur Fähre wird geschlossen. Da kommt Tanja, die ganz schnell zur Baselworld muss. Wir kennen diese Situationen. Aber Martin sagt trocken: «Du musst halt erst mit uns essen kommen, danach fahre ich Dich hinüber.» Sie zögert kurz und kommt dann mit und taucht in eine andere Welt ein. Es geht auch anders – einfacher heiterer und gelassener.
An dieser Stelle gilt es, zwei Unterscheidungen zu treffen. Der Flaneur ist bei Baudelaire, in seiner klassischen Form, auch ein Dandy, ein etwas überheblicher Zeitgenosse. Das ist Aebischer überhaupt nicht. Sehr sensibel nimmt er die Leserin und den Leser an die Hand und begleitet sie durch die Szenen seines Lebens.
Zweitens ist der Flaneur auch ein Akteur für Intellektuelle. Walter Benjamin ist hier wohl einer der spannendsten Beispiele des 20. Jahrhunderts. Sein Flaneur der 20er- und 30er-Jahre in Berlin und Paris ist hier ein Süchtiger, der nach Erfahrungen und Erzählungen sucht, die die Moderne zusammenhalten. Den Anspruch hat Werner Aebischer so nicht. Er blickt auf die Mikro-Situationen, ohne die Weltgeschichte im Schlepptau zu haben. Das führt zu einer Leichtigkeit, die aber nie in Oberflächlichkeiten münden.
Mich erinnert sein Vorgehen eher an die Träumereien (revêrie) von Jean Jacques Rousseau. Im Herbst 1765 hatte er sich auf eine Insel inmitten des Bielersees zurückgezogen. Der Charme bezauberte ihn. Von dort fuhr er mit dem Ruderboot auf den See hinaus. In der Mitte des Sees liess er die Ruder sinken und legte sich in Rücklage auf den Boden des Bootes. Er überliess sich einem inneren Driften. Die Gedanken, die daraus entstanden, waren eine Grundlage der folgenden Epoche, der Aufklärung.
Nun muss man nicht jedes Buch, welches gekonnt die Leichtigkeit des Lebens schildert, gleich in den Himmel von weltgeschichtlichen Autoren loben. Aber der Ansatz ist richtig und hilft einem, den Alltag gelassener zu bestehen. Für Werner Aebischer hält Staunen, Reflektieren und Schmunzeln die Welt im positiven Sinne zusammen. Das ist heute, wo viele Zeitgeistsurfer sehr pessimistisch nur noch in ihrer eigenen Meinungsblase leben, eine ganz wichtige Botschaft.
Viva!
von Werner Aebischer, 2018
ISBN 978-3-907128-12-1
200 Seiten
Das Buch kann direkt beim Autor
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