Industrie 4.0 war gestern, die weitere Entwicklung in Richtung Society 5.0 ist nicht aufzuhalten. Das neue Gesellschaftsmodell Society 5.0 ist technologiebasiert, auf den Menschen fokussiert und umfasst eine Vielzahl «smarter» Anwendungsszenarien.
Den Begriff Society 5.0 hat die japanischen Regierung geprägt. Er steht für eine intelligente, vollständig vernetzte und nachhaltige Gesellschaft. Oberste Ziele der Society 5.0 sind eine Verbesserung der Lebenswelt und Erhöhung der Lebensqualität. Das Fundament der Society 5.0 bilden digitale Infrastrukturen, Plattformen und Services. Sie basieren auf smarten Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI), Robotik, Internet of Things (IoT) und Blockchain, aber auch auf Augmented und Virtual Reality oder Robotic Process Automation (RPA). Diese Technologien haben inzwischen einen Reifegrad erreicht, der die grössten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen seit der industriellen Revolution ermöglicht.
Die Künstliche Intelligenz etwa oder spezifische Ausprägungen wie Maschinelles Lernen (ML) haben schon in unterschiedlichste Arbeits- und Lebensbereiche Einzug gehalten. Inzwischen schon klassische Beispiele sind Alexa oder Siri. Verstärkt eingesetzt werden KI und ML bereits in Bereichen, in denen grosse Datenmengen analysiert und bewertet werden müssen. KI-Systeme sind besser in der Lage als der Mensch, massive Datenmengen zu analysieren, mit unterschiedlichsten Referenzpunkten zu korrelieren und damit bessere Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. So sind Maschinen mittels Algorithmen in der Lage, in der Gesichts- und Spracherkennung mit Fehlerquoten von unter fünf Prozent teilweise bessere Werte als der Mensch zu erzielen. In der Bilderkennung, die auch bei selbstfahrenden Autos zum Einsatz kommt, ist die Maschine den Menschen sogar weit überlegen. Und Online-Händler oder Suchmaschinen nutzen ML zur Optimierung der User Experience und für Kaufempfehlungen. KI und ML sind damit bereits feste – und auch weitgehend akzeptierte – Bestandteile der Lebenswelt.
Die Nutzung smarter Technologien im Zuge der Society-5.0-Einführung hat allerdings erhebliche Auswirkungen auf den einzelnen Menschen. Bezogen auf die Arbeitswelt bedeuten KI und Digitalisierung einen signifikanten Wandel, da sie das menschliche Tätigkeitsspektrum verändern beziehungsweise erweitern. Typisches Beispiel sind Branchen, in denen verstärkt Maschinen und Roboter zum Einsatz kommen, etwa die Fertigungsindustrie. Dass traditionelle Arbeitsplätze künftig wegfallen, liegt auf der Hand. Folglich werden Fortbildungen und Umschulungen sowie die Weiterentwicklung digitaler Skills auf Mitarbeiterseite unumgänglich. Es ist zudem zwingend erforderlich, gesellschaftspolitische Initiativen zu ergreifen, in deren Rahmen bildungspolitische Vorkehrungen getroffen und digitalpolitische Strategien entwickelt und umgesetzt werden.
Der Mensch wird aber nicht nur in der Arbeits-, sondern vor allem auch in der Lebenswelt massiv von Society 5.0 betroffen sein, denn smarte Technologien werden das Fundament unterschiedlichster Anwendungsfälle bilden: für die Vernetzung unserer Fortbewegungsmittel mit «Smart Mobility», für eine nachhaltige Ressourcennutzung mit «Smart Resources», für einer höheren Bewohnerkomfort in der «Smart City», für den Aufbau hochmoderner Produktionsumgebungen in der «Smart Factory», für einen schlanken Staat mit «Smart Government» und für eine intelligente Gesundheitsfürsorge mit «Smart Healthcare».
Gerade das Beispiel Smart Healthcare belegt den erheblichen Nutzen für den Menschen. So kann mit Smart Healthcare auf Basis neuer Technologien ein zentrales Problem in vielen Industrieländern wie auch Deutschland adressiert werden: der demographische Wandel mit einer drohenden Überalterung der Gesellschaft und einem bevorstehenden Pflegenotstand. Am Einsatz smarter Technologien in der Geriatrie wird kein Weg mehr vorbeiführen, denn mit KI und Robotik sind massgebliche Verbesserungen bei der Versorgung alter Menschen erzielbar. Das smarte Haus für Ältere, in dem ein Roboter die Spülmaschine ein- und ausräumt, ist längst keine reine Fiktion mehr und wird zunehmend Wirklichkeit werden. In der Klinik für Geriatrie an der Charité etwa gibt es bereits eine eigene Arbeitsgruppe «Alter & Technik», in der «neue Technologien für die Schaffung integrierter und intelligenter Lebenswelten zur Erhaltung von Gesundheit und Selbstbestimmtheit entwickelt» werden; ein Kernthema ist dabei auch das Smart Home.
KI und Robotik ermöglichen darüber hinaus bereits heute deutliche Optimierungen in der klinischen Versorgung: angefangen von der revolutionierten Diagnostik auf Basis Algorithmen-gestützter Korrelationen bis hin zum Einsatz von Operationsrobotern in der Chirurgie.
Die zentralen Aufgaben bei der Umsetzung
Bei der Umsetzung der Society 5.0 gibt es drei zentrale Aufgaben: die Schaffung der gesellschaftlichen Akzeptanz, das Vorantreiben der Nutzenargumentation und die Anpassung der Bildungssysteme. Die gesellschaftliche Akzeptanz ist die Grundvoraussetzung, um die Society 5.0 erfolgreich zu gestalten. Dazu ist in erster Linie eine Nutzenargumentation unabdingbar. Es muss gezeigt werden, welche generellen Chancen und konkreten Vorteile die Society 5.0 bietet. Und es muss dargelegt werden, welche Möglichkeiten ergriffen werden und welche nicht, gerade auch hinsichtlich der problematischen Anwendungen, die durch Digitalisierung und Vernetzung realisierbar sind; ein negatives Beispiel sind etwa die Testläufe zum Sozialkreditsystem Chinas. Hier müssen klare Abgrenzungen vorgenommen werden, die den kulturellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen Deutschlands gerecht werden.
Vor allem auch das Bildungssystem muss auf die neue Society 5.0 ausgerichtet werden – und zwar in Forschung und Lehre gleichermassen. Durch die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung der Lebenswelt stehen Universitäten wie Schulen in der Pflicht, ihre Bildungsprogramme für Digital Natives anzupassen – gerade auch hinsichtlich der Qualifizierung der nächsten Generation für den Arbeitsmarkt von morgen. Auch in Deutschland besteht diesbezüglich durchaus noch Handlungsbedarf.
Die Vorbehalte
Selbstverständlich dürfen auch die Kritikpunkte an Society-5.0-Modellen nicht unberücksichtigt bleiben. Gerade die vermeintliche Entmündigung des Menschen ist ein wichtiges Thema, das von Universalhistorikern gerne aufgegriffen wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass es nicht um Entmündigung des Einzelnen geht, sondern um eine generelle Verbesserung der Lebenswelt. Richtig ist, dass durch Automatisierung und Digitalisierung ehemals wichtige menschliche Fähigkeiten nicht mehr benötigt werden und dementsprechend – zugespitzt formuliert – auch «verkümmern» können. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass in Zeiten der Navigationssysteme immer weniger Menschen Strassenkarten richtig lesen können. Es stellt sich in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, ob nicht mehr benötigte Fähigkeiten, die in Vergessenheit geraten können, wirklich einen Verlust darstellen und nicht in Wahrheit wesentliche Freiräume für neue höherwertigere und anspruchsvollere Tätigkeiten schaffen, die dem Menschen zugutekommen.
Um weitere Kritikpunkte an der Society 5.0 zu entkräften, muss klargestellt werden, dass eine reine Technologie- und Innovationsgläubigkeit natürlich der falsche Ansatz ist. Gesellschaftliche, ethische und juristische Fragen müssen ebenso berücksichtigt und entsprechende Leitlinien vorgegeben werden. Eine KI sich selbst zu überlassen und Algorithmen maximale Entscheidungsbefugnis einzuräumen, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein und würde – wie Zivilisationskritiker mit Recht anführen – unter Umständen unmittelbar ins Verderben führen. Es sind folglich klare Regelungen zu finden, Richtlinien aufzustellen und umzusetzen. Selbstverständlich muss dann auch ihre Einhaltung kontrolliert und überwacht werden. Die immensen ethischen und juristischen Herausforderungen zeigen sich gerade bei den Entwicklungen rund um das autonome Fahren.
Die klaren Regelungen sind das eine, die Sicherheit das andere. Society 5.0 bedeutet auch, dass erhebliche Mengen persönlicher Daten erhoben und systemübergreifend geteilt werden. Das Ergreifen adäquater Sicherheitsmassnahmen ist hier ein absolutes Muss. NTT Security etwa nimmt die fortschreitende Society-5.0-Entwicklung zum Anlass, neue Lösungen und Services für Hauptkomponenten der zunehmend vernetzten Systeme und Applikationen zu konzipieren: von der IoT- bis zur Cloud-Sicherheit. Aktuell arbeitet NTT Security zum Beispiel an der Entwicklung von Vehicle Security Operation Centers (V-SOCs), mit denen Automobilhersteller die IT-Risiken von digitalisierten Fahrzeugen deutlich reduzieren können. Sie basieren auf der bestehenden, weltweit verteilten SOC-Infrastruktur von NTT Security und sollen in einer finalen Ausbaustufe im Auftrag von Automobilherstellern die Kommunikationsdaten von Millionen von Fahrzeugen analysieren, zum Beispiel hinsichtlich der Manipulation des Datenstroms beim Aktivieren der Bremsen oder Airbags.
Eines steht fest: Die weitere Digitalisierung ist nicht aufzuhalten – und ebenso wenig die Society 5.0. Eine offene und kritische Auseinandersetzung mit der digitalen Zukunft ist für Politik, Gesellschaft und Industrie deshalb eine absolute Notwendigkeit und zwar nicht irgendwann, sondern hier und jetzt. Und die politische Ebene scheint die Bedeutung des Themas erkannt zu haben. Anfang Februar 2019 erklärte der japanische Ministerpräsident Shinzō Abe auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Merkel: «Japan und Deutschland werden tatkräftig die vierte Industrierevolution leiten. Heute habe ich mit Frau Bundeskanzlerin Merkel auch über das Zukunftsbild unserer beiden Gesellschaften diskutiert. Die Zusammenarbeit in den Bereichen der Industrie 4.0 und der Society 5.0 sollen vorangetrieben werden. Beide Länder werden gemeinsam mit Nutzung der Spitzentechnologie den Weg zur Kreierung einer reichen Zukunft ebnen und die gemeinsame Forschung in den Bereichen des autonomen Fahrens, der Künstlichen Intelligenz und des IoT stärken.»
Auf dem Weg zur vollständigen Umsetzung der Society 5.0 sind zwar noch etliche Hürden zu überwinden, aber die Weiterentwicklung der Industrie 4.0 zu einem Gesellschaftsmodell, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird unumgänglich sein. Nur so können künftige soziale und ökonomische Herausforderungen bewältigt werden.