Wir sind auf unseren Wegen unterwegs und gehen Schritt für Schritt weiter. Dieser Beitrag widmet sich diesem Denkbild: das Leben, mein Leben, unser Leben als Weg. Willkommen zum gemeinsamen Denkengehen!
Sitz-ungen und Geh-ungen
Sitzungen, Sitzungsmoderationen, Traktanden, zielklarer kompakter Austausch: An Sitzungen muss etwas gehen, man will am Sitzungstisch weiter- und vorankommen. Viele Stuhl- und Tischbeine vermischen sich mit den Beinen der Sitzungsrunde, um Schritt für Schritt den Themen Beine zu machen! Und doch hat eine Sitzung mit Sitzen, oft genug mit Festsitzen zu tun. Im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (1993, Wolfgang Pfeifer et al.) heisst es zu Sitzung: «mit aufrechtem Oberkörper auf dem Gesäss ruhen». Und wenn das gar nicht mehr geht, gibt’s eine Pause. Die steifbeinigen Möbelbeine hätten noch länger durchgehalten, nicht aber die der Menschen. Jetzt wird aufgestanden, herumgegangen, die Beine werden für neue Unbeweglichkeiten bewegt. Nach der Pause soll es zügig weitergehen. Weniger bekannt als Sitzungen sind Gehungen. Wir kennen dieses Wort aus «Umgehungen». Wir verlassen die gemeinsame Sitzung, endlich ist sie abgeschlossen, stehen auf, kommen in Bewegung und beginnen zusammen eine Gehung. Damit will ich nicht Sitzungen schlechtmachen. Sie werden durch Gehungen ergänzt. Also nichts wie raus! Zu Fuss. Aufbruchstimmung. Bald sind wir zusammen unterwegs und tauschen uns aus – über das Denkbild «das Leben als Weg». Gefährten, Freunde und Freundinnen, die mitgehen und mitkommen, sind mit ihren Füssen und ihren Gedanken für gemeinsame Spaziergänge willkommen. Stille, Redepausen stören im gemeinsamen Unterwegssein nicht. Die Gespräche sind lebendig, kommen langsam in Fluss und mäandern um gemeinsame Themen.
Wie es kommt und wie es geht
Eine Gehung ist kein Lauf, kein Rennen. Ich gehe ohne Eile mit meinen eigenen Füssen. Ich flaniere, spaziere, bewege mich. Ich fussgängere. Und dieses Bewegen, wir spüren es bald und die Hirnforschung bestätigt dieses Empfinden: Es gibt ein wohltuendes Zusammenspiel meiner Bewegungen mit meinem Wahrnehmen und Nachdenken. Ich höre die Baumkronen im Wind rauschen, sehe den Bach glitzern, ich gehe mit wachen Sinnen und innerem Wohlbehagen. In allem, was es gibt, kann ich eine Grosszügigkeit empfinden, aus der heraus ich lebe. Lebenskräfte, die mir helfen, die manchmal verwirrenden Pfade, die eigenen, die der anderen, ihre Brüche und harten Kehren als Bewegter oder Bewegte aufzunehmen und weiterzugehen. Wie bin ich selbst eigentlich bis hierher gekommen? Hier, heute, genau an den Ort, wo ich jetzt bin? Ich bin schon immer auf meinem Weg, ein Bewegter, ein Gewordener. Ich habe meine Wege, Orte, Zeiten, meine Geschichten. Es liesse sich eine Verbindung, ein Zusammenhang, ein Pfad, wohl nur Spuren finden, ab meiner Zeugung (oder noch weiter zurück, noch ältere Wege zu meinen Vorfahren, die ja jahrhundertelang zu Fuss gingen) bis gerade jetzt. Welche verschlungenen Wege, welche unerklärlichen Geschichten haben mich bis hierher gebracht? Klar wird: Das lässt sich nicht in einem tabellarischen Lebenslauf zusammenfassen. Wir haben gewiss nicht immer einen Lauf. Die Löcher im CV – was ist damit? Schlangenlinien, Holzwege, ausgesetzte, schwindelerregende Pfade, Absturzgefahr, Umwege, die die Ortskenntnisse erhöhen, und Endlosschlaufen. Der Rückblick, die Beobachtung der eigenen Spuren, Wege und Pfade, die mich bis hierhergeführt haben, ermutigen. Wir wundern uns, wie es gekommen und gegangen ist. Im Rückblick erweisen sich scheinbare Details nicht selten als entscheidende Weichenstellungen. Was uns alles begegnet ist, was sich gezeigt hat. Erst gerade waren wir noch dort unten, dort hinten, dort drin. Ich bin auf meinem Weg. In meinem Stil gehe ich weiter und voran.
Ich gehe oder ich werde gegangen
Er läuft und läuft und läuft. Der VW-Käfer in einer Werbung aus den Sechzigern: zuerst bildfüllend, dann Bild für Bild, klein und kleiner. Erinnern Sie sich? Irgendwann, ich kann den Comic nicht mehr finden, sieht man zuletzt eine kleine Figur, die nun selbst zu Fuss geht: «… und er läuft.» Der Moment kommt, an dem gar nichts mehr geht. Ich kann mich zwar gehen lassen, weil der Käfer nicht mehr geht. Aber es ist klar: Ich muss hier und jetzt aus dem Käfer aussteigen. Jetzt bin ich dran. Jetzt bewege ich mich selbst. Eine Grundsituation, wenn wir das Leben als Weg verstehen. Das Gehen mit den eigenen Füssen kann ich nicht delegieren. Wenn ich selbst gehe, kann ich mit meinen eigenen Füssen denken gehen.
Wer fliegt, Auto fährt, bewegt sich selbst kaum. Die Maschinen bewegen uns auf vorgeschriebenen Luft-, Land- und Wasserwegen. Wir werden in einem Sitz festgezurrt und bewegt. Die Schrittzählapp lügt nicht. Nur wenige, eigene Schritte werden gezählt.
Gehen als Improvisieren
Im Gehen, unterwegs auf unseren Wegen, bekommen wir es mit der Wirklichkeit, den Realitäten zu tun. Mit allerlei Wetterlaunen, mit Brennnesseln und Brombeerdornen, mit Baumstämmen, die auf dem Weg liegen, mit steilen Pfaden voller Geröll, aber auch mit weichen, wie mit Teppich belegten Waldpfaden, wohltuend zu gehen, mit Morgenfrische, Tau auf den Blättern, Rehen, die überrascht vor einem stehen. Und selten genug ein Hofladen, der kühles Bier und eine schöne Sitzbank anbietet. Zu den vielfältig äusseren Wegen kommen innere, zu den äusseren Landschaften die eigenen, inneren Gegenden, in denen wir uns – leichten und schweren Schritts – bewegen. Wir sind äusserlich und innerlich unterwegs. Das «Leben als Weg» ist keine Metapher, die einen Denkweg betont, dass zwischen A und B eine einfache, schnurgerade Verbindung die Regel wäre. Mit unseren Füssen gehen wir nicht, wie «die Krähe fliegt». Die spannenden Wege sind anders. Gegeben sind Landschaften, Höhenunterschiede, Distanzen, verschiedene Wege, einige davon selten begangen und unsicher, Wetterlagen, die Uhrzeit, die eigenen Kraftreserven und die der Mitwandernden und unser Wasservorrat. Vieles spielt zusammen. Ich muss die Kombination, die Konstellation, die Komposition der Gegebenheiten und Spielräume interpretieren und schauen, was passen könnte. Ich fühle mich in die Atmosphäre dieser Gegebenheiten ein; die Höhendifferenzen und der Wasserstand meiner Trinkflasche sind Fakten; meine Kräfte und das Wetter kann ich einschätzen. Ich interpretiere, was da ist und wie es kommen könnte. Ich beginne zu improvisieren, wie in einer Jazzband. Ich höre mich in die Melodien, Klänge, in den Groove ein und entdecke meine Spielräume in den Gegebenheiten. Ich spiele nicht nur ab Blatt, ich bringe eigene Ideen zum Klingen, mische sie hinein, in das, was da ist. Möglichst kein Murks, keine Verbissenheit. Vielleicht spiele und tanze ich etwas aus der Reihe, lasse den Menschen und Dingen ihren eigenen Lauf und wir können zusammen sehen und hören, wo das hinführt und was sich zeigt. Wie ein gutes Projektmanagement, das Spielräume zur Improvisation vorsieht. Wie im Jazz. Wie im Leben.
Die Vorstellung des «Lebens als Weg» zeigt sich nicht als schnurgerader, asphaltierter Weg. Eine Zumutung für alle, die auf eigenen Füssen unterwegs sind. Das «Leben als Weg» lässt uns eher an einen fussfreundlichen Pfad denken, an einen gangbaren, menschlichen Pfad durch vielfältige äussere und innere Landschaften. Sie stecken voller Überraschungen und Zufälle. Hier gilt Friedrich Dürrenmatt: «Je planmässiger Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall.» Nun haben Zufälle einen schlechten Ruf. Aber es gibt ja viele gute Zufälle, erfreuliche Überraschungen. Im Gehen sind wir in einem Mix unterschiedlicher Freuden und Ärgernisse drin. Durch solches Auf und Ab fussgängern wir. Ich bin auf meinen Wegen unterwegs, Sie auf Ihren. Aber wir gehen doch nicht grusslos aneinander vorbei! Und ist die Luft dünn genug, üblich ab Bergweg, sind wir sowieso per Du. Es gibt Austausch, wir kommen ins Gespräch, wie hier in «out of the box» gehofft. Wir werden Gefährten. Gerade beim Zufussgehen treffen wir Menschen an, die in gleicher Richtung unterwegs sind. Und wir sind langsam, es kann sich etwas anbahnen. Vielleicht gehen wir ein Stück zusammen. Schritt für Schritt für Schritt. Im Rhythmus. In unseren Schrittlängen und Tempi. Das passt manchmal und das gemeinsame Unterwegssein wird zur Jam-Session. Meine Hälfte wäre da.
Werner Aebischer, Berufsschullehrer für Chemieberufe, später Berater für Schülerinnen und Schüler im Übergang von Schule zu Beruf und verantwortlich für den Aufbau und den Betrieb eines Qualitätsmanagements am heutigen Zentrum für Brückenangebote, Basel; Inhaber (zusammen mit seiner Frau) des Ateliers Schulentwicklung, Basel. Heute im Ruhestand, Autor von meinephilo.ch und Mitverfasser des Grenzwanderbuches in der Region Basel «Von Stein zu Stein» im Reinhardt Verlag Basel.