Das Schweizer Gesundheitssystem steht vor der Zerreissprobe. Einerseits geniesst es immer noch weltweit den Ruf für hervorragende Qualität und hochstehende Patientenversorgung, auf der anderen Seite steigen im Zuge der Ansprüche und der Mengenausweitung die Kosten und Leistungen. Damit steigen auch die Belastungen für die Prämienzahler. Als Reaktion darauf hat der Bundesrat ein Paket umstrittener Massnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen geschnürt, mit dem sich jetzt das neu formierte Parlament auseinandersetzt. Darin enthalten ist die bereits früher erwogene, aber ebenso oft kritisierte Einführung eines Referenzpreissystems für Medikamente ohne Patentschutz. kmuRUNDSCHAU brachte im «Storchen» in Zürich unterschiedliche Positionen an einen Tisch.
Georg Lutz: Die im November 2019 publizierte OECD-Studie «Gesundheit auf einen Blick» verdeutlicht absehbare Tendenzen: Die Gesundheitskosten steigen in der Schweiz weiter an. Unter den 36 Mitgliedsländern gibt die Schweiz schon jetzt am zweitmeisten für die Gesundheit aus. Wie definieren Sie Fortschritt im Gesundheitswesen – und können und dürfen wir uns diesen angesichts der steigenden Kosten überhaupt noch leisten?
Dr. Yvonne Gilli: Absolut. Fortschritt bedeutet für mich die Medikamente besser auf individuelle Bedürfnisse abzustimmen. So brauchen Frauen manchmal eine andere Dosierung oder ein anderes Medikament als Männer, ältere Menschen eine andere Therapie als jüngere. Es gibt teure Krebstherapien, wo ganz bestimmte genetische Voraussetzungen entscheiden, ob die Therapie erfolgreich sein kann. Zudem gilt es, die Lebensqualität eines Menschen zu erhalten. Aus einer Versorgungssicht muss klargestellt sein, dass nicht nur wenige gesellschaftliche Gruppen, die es sich leisten können, Zugang zur optimalen medikamentösen Therapie haben.
Georg Lutz: Wie stellt man sicher, dass alle Patienten Zugang zu den notwendigen Arzneimitteln und Therapien haben?
Dr. Enea Martinelli: In der Tat kämpfen wir schon heute in der Schweiz um die Versorgung mit teilweise lebensnotwendigen Medikamenten und finden eine schizophrene Situation vor: Während neue hochpreisige Therapien und Medikamente auf den Markt kommen, soll auf der anderen Seite noch weiter bei den günstigen Medikamenten gespart werden, die dann aus dem Markt verschwinden. Das macht einfach keinen Sinn.
Dr. Axel Müller: Das Problem lässt sich in Zahlen so zusammenfassen. 10 Prozent der Menge sind neue, teure Medikamente, die 50 Prozent der Kosten verursachen. Die restlichen 90 Prozent sind patentabgelaufene, preiswerte Medikamente, die ebenfalls 50 Prozent der Kosten ausmachen. Über 95 Prozent der Arzneimittel machen ebenfalls 50 Prozent der Kosten aus. Die Argumentationsfigur, damit wir die neuen sehr teuren Medikamente finanzieren können – die ja auch wichtig sind – müssen wir bei den preiswerten Medikamenten die Schraube immer weiter nach unten drehen, ist falsch. Der Bundesrat glaubt, die Generikapreise um die Hälfte reduzieren zu können, um sie mit dem Ausland zu synchronisieren. Gleichzeitig glaubt er, dass sich dadurch überhaupt nichts verändern würde. Diese Sichtweise ist falsch. Es wird sich sehr vieles verändern. Viele Arzneimittel werden verschwinden und einige Anbieter gleich mit. Das hat fatale Konsequenzen: Die Menschen sterben an Bluthochdruck oder anderen banalen Krankheiten, die man heute eigentlich alle therapieren kann. Wir dürfen nicht am falschen Ort sparen.
Dr. Enea Martinelli: Einspruch. Die Menschen sterben nicht wegen den genannten Krankheiten. Sie werden nur mit den teureren Medikamenten behandelt. Wir verlieren gewisse Präparate – da stimme ich Ihnen zu – und ersetzen sie durch die teuren Varianten.
Georg Lutz: Lassen Sie uns über das heiss diskutierte Referenzpreissystem für Medikamente sprechen.
Bernhard Bauhofer: An dem Referenzpreissystem als eine, vom Bundesrat vorgeschlagene, zentrale Kosteneinsparmassnahme erhitzen sich die Gemüter. Es bildet ein Teil des Kostendämpfungspaketes des Bundesrats. Den Krankenkassen, als dessen wichtigsten Befürworter, steht die Allianz der Referenzpreisgegner gegenüber. Die grosse Frage lautet: Ist das Aufbäumen von Interessengruppen, die ihre Pfründe nicht aus der Hand geben wollen, oder geht es hier um ein legitimes Kritisieren eines Eingriffs, unter dem der Patient leidet?
Dr. Axel Müller, als Vertreter der Generika-Branche setzen Sie sich doch für tiefe Medikamentenpreise ein. Warum bekämpfen Sie so vehement ein Referenzpreissystem?
Dr. Axel Müller: Zunächst gilt es zu betonen, dass wir, als Generika-Verband, nie grundsätzlich gegen Preissenkungen antreten. Wir machen Preissenkungen jedes Jahr mit. Wir treten an, um Medikamente günstiger und verfügbarer zu machen und um damit auch Kosten zu sparen.
Georg Lutz: Was tut sich in dem Preisfestsetzungssystem?
Dr. Axel Müller: Wir haben seit drei Jahren ein Preisfestsetzungssystem, welches eigentlich funktioniert. Die Preise der Generika oder Biosimilars kennen nur eine Richtung: Es geht nach unten. Wenn wir weiterhin Preise senken wollen, müssen wir nicht am Preis des einzelnen Medikamentes weiterdrehen, sondern andere Stellschrauben ansetzen. So gilt es, die Durchdringung am Schweizer Markt zu fördern. In Deutschland oder den Niederlanden liegen die Zahlen der abgegebenen Generikamedikamente bei 80 Prozent. Bei uns liegt der Marktanteil bei knapp 30 Prozent. Wenn wir es schaffen, nicht an den Generika, sondern mit den Generika zu sparen, sprich, mehr Generika zu verordnen, kommen wir auf einen sparsamen und besseren Weg. Es wäre viel sinnvoller, bevor man über Referenzpreise spricht, über Fehlanreize zu sprechen.
Georg Lutz: Geht das konkreter?
Dr. Enea Martinelli: Der Arzt oder Apotheker bekommt für ein teureres Medikament mehr Geld. Er hat aus diesem Grund keinen Anlass sich für eine andere Alternative zu entscheiden, selbst wenn sie billiger und besser ist. Wir brauchen daher aus unserer Sicht ein Margensystem, welches diese Fehlanreize beseitigt. Ärzte oder Apotheker sollten bei der Abgabe eines Medikamentes mit dem gleichen Wirkstoff auch gleich entlohnt werden. Dann liegt es auf der Hand, dass mehr Generika verabreicht werden.
Dr. Yvonne Gilli: Das sollte das Ziel sein. Es ist von zentraler Bedeutung, im Sinne der Therapietreue, den Patienten bei einem Medikamentenwechsel zu begleiten und das neue Medikament korrekt einzustellen. Von häufigen Medikamentenwechseln sollte abgesehen werden, auch bei gleichem Wirkstoff, da wegen der unterschiedlichen Zusatzstoffe nicht die gleiche Wirkkonzentration im Blut besteht.
Eingriffe in das austarierte Gesundheitssystem sollten, gerade im Sinne der Patientensicherheit, mit äusserster Vorsicht erfolgen. Die Gefahr heute: Wir drehen – unter Kosteneinspargesichtspunkten – an sehr unterschiedlichen Wirkungsschrauben herum und haben dabei nur diese eine Schraube im Fokus. Wir sind aber in einem Zahnradsystem, bei dem die dritte Schraube sich in eine andere Richtung dreht. Es fehlt die Gesamtoptik, es fehlt eine grundlegende Strategie. Referenzpreise beeinflussen die Versorgungsstruktur. Die Medikamentenabgabe ist mit Anreizen und Rabatten verknüpft. Ich bin daher nicht grundsätzlich gegen Referenzpreissysteme. Ich bin aber gegen unüberlegte Modelle von Referenzpreissystemen, bei denen neue Fehlanreize neue Probleme verursachen.
Bernhard Bauhofer: Apotheker zählen zu den schärfsten Gegnern eines Referenzpreissystems. Warum gehen die Apotheker gegen ein Referenzpreissystem auf die Barrikaden? Was sind die spezifischen Argumente der Apotheker in der Schweiz?
Fabian Vaucher: Wir hängen uns selber vom System ab. Wenn wir alles gleich wie das Ausland machen, werden wir für den Export attraktiv. Unsere Präparate, kommen ins Ausland, vor allem wenn andere Länder einen Exportstopp verfügen. In Österreich ist das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, in Deutschland wird es diskutiert und in Frankreich gibt es ein Strafsystem. Wir werden ein gefragtes Exportland zu unserem eigenen Schaden. Und so vergrössern sich Lieferengpässe bei Medikamenten im Inland.
Bernhard Bauhofer: Wie muss man sich das dann in der Praxis vorstellen?
Dr. Yvonne Gilli: Als ich vor über 15 Jahren meine Praxis gründete, habe ich jeden Abend meine Medikamentenbestellung abgegeben, und am nächsten Tag war alles auf meinem Schreibtisch. Wenn ich heute 15 Medikamente bestelle, sind vier oder fünf nicht lieferbar – und das jeden Tag. Das hat zur Folge, dass ich Patienten wegschicken muss. Nehmen wir als Beispiel Impfungen: Aktuell ist die Tollwutimpfung nicht lieferbar. Es gibt aber Menschen, die diese brauchen, da sie in gefährdeten Regionen im Ausland arbeiten. Aktuell sind in der Schweiz konstant in wechslender Zusammensetzung ungefähr 500 Medikamente nicht lieferbar. Die komplizierte Beschaffung führt zu einer höheren Ineffizienz und damit auch zu höheren Kosten. Dann führt dieser Weg zu einer niedrigeren Compliance der Patienten und zu ungeeigneten Rezepten. Man verschreibt eben das, was man beschaffen kann.
Bernhard Bauhofer: Das ist eigentlich ein Eingriff in ein funktionierendes System?
Ja, der Eingriff führt zu qualitativen Mängeln.
Bernhard Bauhofer: Wie beurteilt ein Makroökonom die Situation?
Dr. Willy Oggier: Was mich an der bisherigen Diskussion stört, ist, dass wir sofort auf den Preis und den Anreiz springen. Ich kann einen Preis nie losgelöst von einer Leistung beurteilen. Die Diskussion suggeriert, dass die Medikamente eigentlich gleich sind. Das ist aber oft ein Trugschluss. Selbst wenn die Wirkstoffe identisch sind, können die Füllstoffe ganz anders sein. Hier vergleichen wir dann Äpfel mit Birnen. Das betrifft auch die Länderbeispiele. Herr Müller, Sie haben hier die Niederlande angeführt. In den Niederlanden sind die Langzeitpflege und die Langzeitpsychiatrie nicht in der Krankenversicherung enthalten. Bei uns wird das alles im Rahmen der Krankenversicherung mitfinanziert. Systeme können nicht einfach eins zu eins verglichen werden. Das Gesundheitssystem ist in seinem Kern ein Vertrauensverhältnis. Wenn wir diese Beziehung infrage stellen, dann holen wir nicht mehr den Placebo-Effekt ab. Dieser stellt ein gewichtiger Faktor dar, der selbstredend auch kostendämpfend wirkt. Und der Bundesrat sattelt hier noch drauf. In der Vorlage ist von einer jährlichen Überprüfung die Rede. Für das Vertrauensprinzip ist das schlicht gemeingefährlich.
Bernhard Bauhofer: Wie sieht hier die Sichtweise und die Argumentationsketten des Apothekenverbands aus?
Fabian Vaucher: Das Patientenbedürfnis sollte im Fokus stehen. Wir schauen in der Regulierungsfolgeabschätzung oft nur auf die Kosten. Aus Sicht des Patienten ist das System höchst asozial. Der Patient, der eine chronische Erkrankung hat und nur einen schmalen Geldbeutel besitzt, schaut hier doch in die Röhre. Die versteckten Kostenbeteiligungen sind für solche Patienten und ihr Vertrauensverhältnis mindestens genauso essenziell. Solch einem Patienten wird aus ökonomischen Gründen das Vertrauensverhältnis zerstört. Auf den Punkt gebracht: Wir sparen auf der einen Stelle und geben an anderer Stelle wieder mehr Geld aus. Das Thema Verfügbarkeit wurde angesprochen. Es gibt inzwischen in Spitälern neu angestellte Experten, die sich nur darum kümmern, hier Lösungen zu finden. Und das sind Personalkosten von Spezialisten. Ich muss Epileptiker zum Spezialisten schicken, da seine Therapie nicht mehr verfügbar ist. Bei Parkinson ist es das Gleiche. Das kostet alles viel, viel Geld.
Dr. Yvonne Gilli: Gleichzeitig wurde verpasst, in eine geeignete technologische Unterstützung für eine sicherere Medikamentenabgabe zu investieren. In der ganzen ambulanten Medizin haben wir keine Praxis-Software, die uns einen State-of-the-Art Interaktionsbild bei der Medikamentenverabreichung liefert. Auch durch solche Massnahmen können Kosten gesenkt und die Qualität verbessert werden.
Bernhard Bauhofer: Jeder ist schlussendlich Patient. Wie sind Patienten von aufoktroyierten Medikamentenwechseln betroffen? Gibt es konkrete Beispiele, wie und wo der Patient leidet?
Dr. Yvonne Gilli: Bei Allergikern sind mir Komplikationen bekannt, da sie nicht richtig behandelt werden, da man von einem Medikament zum nächsten wechseln muss. Auch wenn der Wirkstoff der Gleiche bleibt, können veränderte Zusatzstoffe wie Konservierungsmittel oder Aromata schwere Allergien auslösen. Im Bereich der Psychiatrie gibt es viele chronisch Kranke, die sozioökonomisch schlecht dastehen und mehrere Medikamente brauchen. Wenn man hier abrupt wechseln muss, ist es wahrscheinlich, dass uns die Situation entgleist. Dies führt zu unnötigen und teuren Spitalzuweisungen, allein weil der Wechsel eines Medikamentes den Zustand des Patienten verschlechtert.
Bernhard Bauhofer: Ist die Sorge der mangelnden Versorgung mit Medikamenten auch beim Patienten angekommen, oder geht es hier nur um die ausufernden Kosten?
Babette Sigg Frank: Bei uns sind der Dauerbrenner auf Platz eins die Gesund-heitskosten – und zwar mit Abstand. Die gefährdete Versorgungssicherheit und häufige Medikamentenwechsel belasten Patienten. Das macht sich im Alltag bemerkbar, wenn man nicht mehr zwischen unterschiedlichen Darreichungsformen und Umfang wählen kann, sondern seine Tabletten selber vierteln darf. Da stösst man bei Patienten, die dazu nicht in der Lage sind, an Grenzen. Daher ist auch die Verunsicherung bei dieser Zielgruppe gross.
Bernhard Bauhofer: Bleiben wir beim Patienten. Was sind die zentralen Gründe gegen die Referenzpreise?
Dr. Axel Müller: Das erste Argument zielt auf die Versorgungssicherheit. Da sollten wir zunächst anschauen, wie Produktionsbetriebe in der Pharmabranche aufgestellt sind und wie sie reagieren. Nehmen wir einen internationalen Pharmakonzern, der seinen Sitz in Europa hat. Er produziert von einem Medikament eine gewisse Menge. Dann kommt es zu einer Verknappung eines Wirkstoffes, da ein indischer Hersteller ein Problem hat. Dann haben wir sofort eine Verknappungssituation. Wie reagiert der global aufgestellte Hersteller? Er produziert das, was er noch zur Verfügung hat. Und dann steht die Frage der Zuteilung im Raum? Welches Land bekommt noch eine Teilcharge? Die Schweiz hat hier im internationalen Umfeld vernünftige Preise, und daher stehen wir ganz vorne in der Schlange. Wir sind in einer bevorzugten Lage, obwohl wir ein sehr kleiner Markt sind. Sollten wir die Preise, wie das vorgesehen ist, halbieren, stehen wir, um im Bild zu bleiben, ganz hinten an. Das werden die Patienten spüren. Diesen Bonus sollten wir nicht verspielen. Es gibt noch ein zweites wichtiges Argument. Bei einer Halbierung auf europäisches Niveau würden hier in der Schweiz bis auf zwei, drei grosse Player die Generika- Anbieter vom Markt verschwinden.
Georg Lutz: Warum sind die Fronten zwischen Referenzpreisbefürwortern und -gegnern denn so verhärtet?
Dr. Enea Martinelli: Die Diskussion auf Bundesebene ist von abgrundtiefem Miss-trauen geprägt. Das Bild des Pharmamenschen, der eine starke Lobby hat und nur an sich denkt, ist wirkungsmächtig und weit verbreitet. Wir wollen doch nur abkassieren und haben Freude an diesem System, könnte man zynisch noch dazusetzen. Zum Glück belegt diese Diskussion das Gegenteil.
Georg Lutz: In welche Richtung müsste dann in einer solch verfahrenen Situation gedacht werden, um Alternativen aufzuzeigen, die solche Blockadesituationen durchbrechen?
Dr. Willy Oggier: Sie haben die Diskussion mit der Fragestellung zum Fortschritt eröffnet. Wenn Fortschritt mit Innovation verknüpft und im Sinne der Meinungsbeiträge von Frau Gilli definiert wird, dann sage ich Ihnen als Ökonom, ist der Wettbewerb die erste Wahl. Ich habe manchmal das Gefühl bei solchen Debatten, dass man Innovation will – aber bitte zum Nulltarif. Wir haben aber doch immer betont, dass wir in ein wettbewerbliches System wollen, damit der der innovativ ist, auch einen Gewinn machen kann. Ich bekomme aber nun zunehmend den Eindruck, dass man den Erfolgreichen den Gewinn nicht gönnt. Daher reden wir eigentlich von Staatsversagen.
Georg Lutz: Das ist ein hartes Wort und wie kommen Sie darauf?
Dr. Willy Oggier: Die Preise auf der Spezialitätenliste sind Amtspreise. Diese sind nach einem klaren Verfahren festgelegt worden. Wenn das gleiche Bundesamt kommt und nun sagt: «Das ist zu teuer, wir müssen umsteuern», dann haben die Verantwortlichen einen schlechten Job gemacht. Bei der Festsetzung der Medikamentenpreise ist viel staatliche Macht da. Es besteht die Gefahr, Scheindiskussionen zu führen.
Dr. Yvonne Gilli: Da schliesse ich an. In dem zuständigen Departement ist bei hoher Komplexität von Entscheidungen nicht mehr ausreichend Expertise von Gesundheitsfachpersonen auf Kaderebene vorhanden. Ich kenne kein Unternehmen in der Privatwirtschaft und auch kein anderes Departement, in dem die Situation so drastisch ist. Die Folge ist ein Führungsproblem. In dieser Situation, die ich mit Hilflosigkeit umschreiben würde, reguliert man undifferenziert und praxisfremd. Das führt sogar dazu, dass man die Wertschöpfung, die hier noch im Land ist, auch noch kappt. Es gibt noch KMU im Bereich der Heilmittelherstellung, die setzt man einem existenziellen Druck aus, dem sie nicht lange standhalten können.
Fabian Vaucher: Im Moment haben wir Anreize so gesetzt, dass ich einem Patien-ten eine gewisse Leistung verrechne. Nur dann werde ich bezahlt. Ich kann mich nur verbessern, wenn ich mehr Leistungen produziere. Und schon sind wir bei der schon angesprochenen Leistungsexplosion. Der Fokus sollte aber doch eher auf der Versorgung des Patienten liegen. Was machen wir als Akteure? Wir streiten um den Patienten. Leistung kann nicht als interprofessionelle Zusammenarbeit abgegolten werden. Die Schuld liegt hier klar beim KVG (Obligatorische Krankenversicherung). Der Fokus im KVG muss verändert werden. Soll der Fokus wirklich auf nur auf einer abgegebenen Leistung liegen, egal, ob sie wirkt oder nicht? Die Regulierungsfolgenabschätzung ist schlecht gestrickt. Das Bundesamt für Gesundheit schiesst mit Schrot wild um sich und sagt, jede einzelne kleine Kugel ist doch harmlos. Aber es gilt: Viele Schrotkugeln sind des Hasen Tod. Dieses Bild trifft dann auch auf die Referenzpreise zu. Die Folge: Der Patient leidet. Das Versagen des Systems ist auch ein Versagen der Versicherungen. Sie übernehmen kaum Verantwortung bei dem Thema Vorsorge.
Dr. Enea Martinelli: Ich will den Rahmen nochmals etwas weiterspannen. Unser Gesundheitssystem ist in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts aufgegleist worden. Man hat sich für das Gemeinwohl engagiert und ist davon ausgegangen, dass jeder über eine Grundethik verfügt. Es funktioniert eigentlich noch heute. Doch heute gibt es falsche Anreize im Markt, die fatale Folgen haben. Wenn ich heute als Arzt oder Apotheker Generika in der Schweiz verschreibe oder abgebe, bin ich betriebswirtschaftlich gesehen ein Depp. Generika- Präparate werden im Vergleich zu Originalpräparaten klar benachteiligt. Diese Situation nenne ich staatliche Bestechung. Der Staat zahlt mir als Fachperson mehr Geld, um das Falsche zu machen.
Bernhard Bauhofer: Warum kommen die Generika-Argumente kommunikativ nicht optimal durch?
Dr. Axel Müller: Wir haben kommunikativ betrachtet eine grosse Herausforderung zu bewältigen. Wir müssen argumentativ weit ausholen. Es geht um Versorgungssicherheit über Innovationsschwund oder um Darreichungsformen. Wir haben viele Argumente, die versteht aber nur ein Insider. Der Patient will das meist gar nicht verstehen – warum soll er auch? Ein neuer Politiker muss sich jetzt wenige Wochen nach der Wahl erst mühsam einarbeiten. Da hat es Bundesrat Alain Berset viel einfacher. Er hat ein durchschlagendes Argument, welches jeder versteht: Ihr seid doppelt so teuer wie im Ausland.
Das ist richtig, nur sind wir von der Generikaseite nicht für den Prämienanstieg verantwortlich. Wie kann etwas für einen Prämienanstieg verantwortlich sein, was 1.3 Prozent der gesamten Gesundheitskosten ausmacht und gleichzeitig von den Preisen her gesehen nur eine Richtung kennt – nämlich die nach unten. Zudem sind wir auf der Seite des dunklen Imperiums, da wir viel teurer wie im Ausland sind. Wir sind keine Jedi-Ritter, die jedes Jahr zu Preissenkungen beitragen oder spannende Medikamente auf den Markt bringen, die preiswert sind.
Daher haben wir bei Teilen der Bevölkerung ein schlechtes Image. Der Bundesrat sollte uns nun mit auf die Sparreise nehmen. Wir sind bis zu 70 Prozent billiger wie das Orginalpräparat.
Uns ist klar, dass wir auf einen Kompromiss hinsteuern. Das ist gute Tradition in der Schweiz. Wir müssen aber Nein zu Unsinn sagen. Wenn die Fehlanreize beseitigt sind, stehen wir gerne bereit, weitere Kostensenkungen mitzumachen.
Fabian Vaucher: Darf ich es nochmals auf den Punkt bringen: Es gilt, günstige Medikamente attraktiv zu machen. Das ist für mich der zentrale Satz.
Georg Lutz: Wenn wir schon am Schluss bei spannenden Zuspitzungen sind: Wann ist das System gut?
Dr. Willy Oggier: Es geht in einer Sozialversicherung in der Regel um Sozial Schwache, Ältere und Kostenintensive. Wenn diese Personenkreise gut versorgt sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Gesamtsystem gut ist.
Georg Lutz: Gibt es auch noch einen Tipp an unsere neuen Politikerinnen und Politiker in Bern?
Dr. Yvonne Gilli: Unsere Politiker sollten Allianzen bilden, die über die unmittelbar betroffenen Berufsgruppen hinausgehen. Kosten sind inzwischen ein Panikmittel geworden. Hier gilt es, Aufklärung zu leisten, und drittens gilt es, sehr konkrete Vorschläge zu machen. In welche Richtung die gehen sollten, haben wir hier in dieser Diskussion aufgezeigt.
Bernhard Bauhofer: Abschliessend darf ich nochmals Frau Sigg Frank in die Diskussionsrunde mit einbeziehen. Wie soll aus Ihrer Sicht als Konsumentenschützerin das neu zusammengesetzte Parlament im Sinne der Patienten mit der Thematik umgehen?
Babette Sigg Frank: Am besten versetzen sich die neuen Parlamentarier in die Situation der Patientinnen und Patienten hinein. Dann sehen Sie die von uns hier angesprochenen Probleme und Hürden. Ich bin aber skeptisch. Es gehört leider nicht zu den Kernkompetenzen der Politiker sich so zu identifizieren – Anwesende selbstverständlich ausgeschlossen. Für mich heisst das wichtigste Stichwort Vertrauensverlust. Er entsteht, wenn die Akteure nur an sich selbst denken, dann wenn es beispielsweise um die Gesundheitskosten geht. Was ich wichtig finde, ist dass unbeteiligte Dritte ein Problem aufnehmen und neutral informieren. Wir als Konsumentenschützer setzen genau auf diese Strategie. Wir weisen die Parlamentarier sehr konkret auf Konsequenzen der Referenzpreisstrategie hin und sagen zu diesem bislang eingeschlagenen Weg ein klares Nein.