Neue Zeiten mit ihren neuen Herausforderungen brauchen neue Führungspersönlichkeiten. Das folgende Interview ist ein Plädoyer für neue Skills, mehr Sinnlichkeit und Sinn – auch und gerade in der Wirtschaft. Wir führten es mit der renommierten Führungsexpertin, Buchautorin und internationalen Rednerin Nicole Brandes.

Frau Brandes, Sie befassen sich als führende Expertin damit, wie Leadership in Zukunft aussehen könnte. Zudem sind Sie Coach – was machen Sie als Managerin der Manager und Unternehmerin genau?
Ich unterstütze Führungskräfte, die Herausforderungen, die durch die digitale Transformation auf sie zukommt, besser zu meistern. Wir suchen in diesem Change im Megaformat nach neuen Geschäftsmodellen, Strategien und Strukturen. Was wir dabei vergessen – die wirklich grossen Herausforderungen sind menschlicher Art.

Das klingt theoretisch gut, können Sie es praktisch auf den Punkt bringen?
Wir ertrinken in Daten, aber benötigen Erkenntnisse. Wir leben in einer Kultur der unendlichen Wahlmöglichkeiten, aber wir brauchen Orientierung. Und wir sind vernetzt mit Menschen aus der ganzen Welt, wo unterschiedlichste Weltbilder aufeinanderprallen. Um zu kollaborieren, benötigen wir Vertrauen. Das braucht eine ganz neue Führungskultur und neue Skills. Es geht also um Fähigkeiten wie Kontextualisieren, Beziehung gestalten, Interaktion ermöglichen und Sinn geben – und das lernen wir nicht im MBA.

Was sind dabei Ihre wichtigsten strategischen Meilensteine?
Alle sprechen von Digitialisierung, Disruption und Diversität. Aber erst wenige haben das Bewusstsein oder den Mut dafür, eine Kultur zu etablieren, die evolutionäres Lernen, Kreativität und Empathie fördert. Dabei sind das die künftig grössten Einflussfaktoren auf die Performance. Diese Bereiche gewinnen an Bedeutung. Meines Erachtens werden wir künftig mit weichen Faktoren hartes Geld verdienen. Das bedingt, dass wir vom fachlichen noch vielmehr ins menschliche Können kommen. Dafür setze ich mich ein.

Wie sind Sie in Ihre Erfolgsspur gekommen?
Ich denke, ich kann mich gut in Führungspersönlichkeiten hineinversetzen, da ich selbst lange in solch einer Positionen war. Ich hatte die grosse Gelegenheit, für multinationale Konzerne VIP-Clubs aufzubauen, Kommunikationsstrategien zu entwickeln und eine königliche Stiftung zu führen. Alle diese Tätigkeiten erforderten vor allem eines: mich unter hohem Druck sehr, sehr schnell an neue Menschen, neue Systeme und neue Umstände anzupassen. Heute nennt man solch ein Vorgehen agiles Verhalten. Und ich komme aus dem Wettkampfsport, wo es nur um Leistung geht. Diese Haltung habe ich in die Arbeit getragen – bis ich mich selbst verloren habe, denn Leistung macht noch keine Persönlichkeit. Also musste ich mich auf die innere Reise machen.

Es gibt offensichtlich nicht die Königswege. Was zeichnet denn Führungskräfte von morgen aus?
Vor allem drei Dinge: Sie haben den Fokus auf die übergeordneten Geschehnisse im Aussen und können sehr, sehr flexibel in diesem volatilen, dynamischen Umfeld agieren und Widersprüche aushalten. Sie haben einen Fokus auf Diversität und fördern Skills wie Empathie und kulturelle Kompetenz um Interaktionen und Zusammenarbeit überhaupt zu ermöglichen. Und sie haben einen Fokus auf ihr Inneres. Es geht darum, sich in dieser Unüberschaubarkeit nicht selbst zu verlieren, sondern Leitfigur und Beeinflusser zu sein. Das setzt ein grosses Verständnis für die eigene Persönlichkeit voraus.

Ist die Zukunft mit diesen Anforderungen denn eher weiblich?
In einer Welt, in der wir an Kollaboration nicht mehr vorbeikommen, sind weibliche Stärken zunehmend gefragt. Dass Frauen besser führen, ist nicht belegt. Aber sie bringen eher Eigenschaften mit, die heute so wichtig sind. Dabei geht es nicht darum, Männer mit Frauen zu ersetzen, sondern gemischte Teams zu etablieren. Diversität macht Unternehmen in einer unplanbaren Welt viel resilienter und produktiver. Und man weiss, dass solche weiblichere Unternehmenskulturen mit einem besseren ­Aktienkurs korrelieren. Ich bin begeistert, dass ein neuer Typ Frau im Vormarsch ist: ambitioniert, gut ausgebildet, sportlich und hervorragende Teamworker – und sie legen Wert auf ihre Weiblichkeit. Und das ist nicht einmal eine Generationenfrage, sondern ist über alle Altersgruppen hinweg zu sehen. Ich gehe davon aus, dass diese Frauen, die mit einem sehr pragmatischen Ansatz das Genderthema angehen, bald immer mehr in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu sehen sind. Und zwar in wichtigen Posi­tionen und nicht als Alibi.

Gleichzeitig gibt es noch viel Luft nach oben, was die Zahlen betrifft. Was müssen Unternehmen tun, um Frauen noch weiter in Führungspositionen zu bekommen?
Ich glaube nicht, dass wir nur mit den klassischen Quoten weiterkommen. Vielmehr geht es erst einmal darum, die Bereitschaft zu haben, Frauen auf allen Stufen mit spezifischen Programmen zu fördern und die Unternehmenskultur flexibler und familienfreundlicher zu gestalten. Das Unternehmen muss sich auch klar zu dieser neuen Kultur bekennen und das deutlich kommunizieren und vorleben. Stereotypes ­Rollenverständnis gehört leider immer noch zu den grössten Bremsfak­toren. Dabei muss man auch Frauen in die Verantwortung nehmen.

Und was müssen Frauen Ihrer Meinung nach tun, damit sie nach oben kommen?
Da sehe ich vor allem drei Dinge: Frauen benötigen viel mehr Aufstiegskompetenz. Zentraler Punkt dabei ist ein klarer strategischer Ansatz, was die Karriere angeht. Dazu können Sie sich Fragen stellen wie, wo möchte ich hin? Wie weit bin ich ­bereit zu gehen? Will ich CEO werden? Positionen in PR, Marketing und IT haben nur wenige Chancen auf einen Platz in der Unternehmensführung. Wenn diese Fragen beantwortet sind, dann braucht es eine gute Umsetzungsstrategie. Die meisten und vor allem die besten Jobs bekommt man immer noch offline, über selbst geknüpfte Netzwerke. Frauen müssen auch lernen, sich besser und bisweilen etwas offensiver zu verkaufen. Dafür habe ich spezifisch ein Mentoring geschaffen, in dem ich junge «High Potentials» unterstütze, sich besser zu vermarkten, aber auch ihre Selbstkompetenzen zu fördern.

Wie werden Führungskräfte heute zu dem, was Sie als «Zukunftsmacher» bezeichnen?
Indem sie sich für einen ganzheitlichen ­Führungsansatz öffnen. Wir können heute nicht mehr auf mehrere Jahre hinaus planen, sondern müssen genau beobachten, wie sich die Welt verändert und analysieren, was das bedeuten kann, und zwar auf allen Ebenen. Wir leben in so atemberaubenden Zeiten, wo sogar das Unmögliche möglich werden kann. Und ob wir dies zum Guten oder zum Schlechten nutzen, das ist jedem selbst überlassen. Zukunftsmacher sind nicht unbedingt Menschen in Positionen, sondern Menschen, die in die richtige Richtung lenken – nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Organisation, aber auch für das grosse Ganze. Und Zukunftsmacher sind Leitfiguren und kennen ihren Kern: ­Wofür stehe ich? Wofür brenne ich? Was will ich? In einer digitalisierten Welt wird der Ruf nach Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit immer lauter. Und die beginnt immer an einem Ort: bei sich selbst.

Das ist nicht gerade eine einfache Geschichte?
Richtig, diese Fragen sind ja kein Pappenstiel. Sie sind auch kein Zustand, sondern ein Prozess. Ich sehe in meinen Coachings immer wieder, dass diese Fragen zu beantworten Unterstützung braucht. Man kann sich ja selbst nicht auf den Kopf schauen.

Weitere Informationen:
www.nicolebrandes.com