Nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen befinden sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU in der vielleicht grössten Krise seit dem Beginn des bilateralen Wegs vor über 20 Jahren. Für die Schweiz ist dies eine bedenkliche Entwicklung, denn mit dem Zugang zum EU-Binnenmarkt steht und fällt der Erfolg der Schweizer Wirtschaft.
Weit über die Hälfte der Schweizer Exporte und fast 70 Prozent der Einfuhren entfallen auf die EU. Dabei war der bilaterale Weg schon immer von Unsicherheiten geprägt. Denn die Schweiz ist zwar geografisch, wirtschaftlich und kulturell eng mit Europa verflochten, politisch möchte unser Land aber möglichst unabhängig bleiben und ist deshalb kein Mitglied der Europäischen Union. Aus diesem Spannungsverhältnis hat sich der bilaterale Weg entwickelt. Er ermöglicht uns über einzelne Abkommen eine enge Anbindung an die Europäische Union unter Beibehaltung maximaler politischer Selbstbestimmung. Dieser Kompromiss ist eine grosse Erfolgsgeschichte und in der Bevölkerung sehr beliebt. Die europapolitischen Volksabstimmungen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen dies deutlich. Aber der bilaterale Weg ist kein einfacher Weg. EU-skeptische Kräfte im Inland fordern mit Referenden und Initiativen die Europapolitik immer wieder heraus. Auch im europäischen Ausland stossen die politischen Prozesse und Positionen der Schweiz oft auf Unverständnis. Kurz: Dem bilateralen Weg fehlt eine stabile Basis, weshalb er immer wieder auf die Probe gestellt wird.
Ein verlorenes Jahrzehnt
Die jetzige Krise entstand aus dem Unvermögen der Schweiz und der EU, sich auf ein institutionelles Abkommen zu einigen. Das Vorhaben, wenigstens die zentralen Marktzugangsabkommen mittels eines Rahmenabkommens auf eine stabile Basis zu stellen, wäre grundsätzlich im Interesse beider Seiten. Die EU wünscht sich insbesondere, dass die Schweiz ihr Recht rascher an das sich verändernde EU-Binnenmarktrecht anpasst. Die Schweiz würde von einem langfristig stabilen und verlässlichen Verhältnis zu ihrem wichtigsten Handelspartner profitieren. Ein geregeltes Streitschlichtungsverfahren gäbe ihr eine Handhabe gegen diskriminierende Massnahmen der EU. Ein Rahmenabkommen hätte vor allem auch mehr Rechts- und Planungssicherheit für Schweizer Unternehmen gebracht. Letztlich fehlte es aber auf beiden Seiten an Kompromissbereitschaft, um dem Abkommen zum Durchbruch zu verhelfen. Das unklare Verhalten des Bundesrats in den letzten Jahren hat massgeblich zum Scheitern beigetragen. Es lohnt sich ein kurzer Blick zurück.
Nach mehreren Jahren Vorabklärungen und vier Jahren offiziellen Verhandlungen erklärte die EU 2018 den Vertrag über ein institutionelles Rahmenabkommen als fertig verhandelt. Der Bundesrat nahm das Verhandlungsergebnis zur Kenntnis, konnte sich aber nicht zu einer klaren Stellungnahme durchringen. Er schickte das Dokument stattdessen in die innenpolitische Konsultation, wo es von innenpolitischen Interessengruppen – hauptsächlich den Gewerkschaften und EU-Skeptikern – drei Jahre lang schlechtgeredet wurde. Am 26. Mai 2021 schliesslich erklärte der Bundesrat den Abbruch der Verhandlungen. Sieben Jahre Verhandlungen und mehrere Jahre Vorverhandlungen endeten ergebnislos. Warum der Bundesrat 2018 nicht klar Stellung bezogen hatte – also entweder auf das Weiterverhandeln der EU zu pochen oder den Vertrag innenpolitisch zu verteidigen – ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar. Dem nicht genug hat auch das Parlament noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen, indem es 2019 die Auszahlung der Kohäsionsmilliarde blockierte. Es knüpfte die Freigabe des «Beitrags zugunsten ausgewählter EU-Staaten» an die Bedingung, dass die EU keine diskriminierenden Massnahmen gegen die Schweiz ergreift. Mit diesem taktisch ungeschickten Schachzug lieferte die Schweiz der EU erst recht einen Vorwand für benachteiligende Massnahmen.
Was auf dem Spiel steht
Als Resultat dieser unglücklichen Entwicklung sind die Schweiz und die EU heute in einer Negativ-Spirale gefangen. Die EU will ohne Rahmenabkommen einzelne Verträge nicht mehr erneuern. Damit drohen diese an Wirkung zu verlieren. Die Konsequenzen können wir bereits spüren, zum Beispiel in der Medtech-Branche. Wegen des gescheiterten Rahmenabkommens akzeptiert die EU-Schweizer Medtech-Zertifikate nicht mehr. Die Schweizer Medizintechnik-Unternehmen exportieren jährlich Produkte im Wert von zwölf Milliarden Franken – die Hälfte davon geht in die EU. Der Export dieser Produkte wird nun komplizierter und teurer. Dies ist erst der Anfang. Das gleiche Schicksal droht unter anderem der Maschinenindustrie. Auch die Unternehmen aus anderen Branchen müssen früher oder später ihre Produkte zusätzlich in der EU zertifizieren lassen, wenn diese die entsprechenden Abkommen nicht erneuert.
Eine weitere schmerzhafte Entwicklung ist der Entscheid der EU, die Schweiz nicht voll am Forschungsprogramm «Horizon Europe» teilnehmen zu lassen. Für den Wirtschafts- und Innovationsstandort Schweiz ist diese Entwicklung fatal. Hierbei ist es entscheidend zu verstehen, dass es nicht einfach um den Verlust von Forschungsgeldern geht. Diese kann die Schweiz ersetzen. Beim Zugang zu den europäischen Forschungsprojekten geht es in erster Linie um Prestige und die internationale Vernetzung. Es gibt weltweit in Bezug auf Renommee und Umfang kein vergleichbares Forschungsprogramm. Darüber hinaus ist auch die angewandte Forschung betroffen. Forschende Schweizer Firmen – darunter oftmals KMU – profitieren von EU-Forschungsgeldern und den länderübergreifenden Forschungsprojekten. Sie erlauben ihnen, Innovationen frühzeitig auf ausländischen Märkten zu testen und ihre Forschung breit abzustützen. Um weiterhin Zugang zu diesen Projekten zu haben, überlegen sich einige KMU, ihre Forschungsabteilungen in die EU zu verlagern. Die Konsequenzen werden nicht von heute auf morgen zu spüren sein. Aber für den langfristigen Erfolg unseres Forschungsstandorts ist diese Entwicklung höchst gefährlich.
Weitere Wege
Wann und wie die Schweiz und die EU wieder auf einen positiven Pfad zurückfinden, ist derzeit schwer abzuschätzen. Klar ist nur, dass die Schweiz unter der aktuellen Unsicherheit weit mehr leidet als die EU. Die zunehmenden Hürden für den EU-Marktzugang und der Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm treffen viele Unternehmen hart. Die Schweiz muss sich also überlegen, wie sie aus dieser Lage schnell wieder herauskommt. Dazu braucht es positive Signale an die EU und eine klare Strategie. Die rasche Freigabe der Kohäsionsmilliarde durch das Parlament wäre eine gute Gelegenheit, unseren Willen zu einer Normalisierung der Beziehungen kundzutun. Für die langfristige Sicherung der Bilateralen muss die Schweiz aber wieder einen innenpolitischen Konsens herstellen. Dieses Übereinkommen muss zum Ausdruck bringen, was wir von der EU wollen und was wir bereit sind, dafür zu zahlen. Denn ohne Kompromissbereitschaft wird es nicht gehen. An einer Institutionalisierung der Beziehungen zu unserem grössten Handelspartner führt langfristig kein Weg vorbei. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir mit der Europäischen Union erneut darüber verhandeln werden. Spätestens dann müssen wir wissen, warum uns die Bilateralen wichtig sind und welche Kompromisse wir bereit sind einzugehen. Die Maximalforderungen einzelner Interessengruppen zu übernehmen – wie jüngst beim Rahmenabkommen –, ist keine Lösung. Der Bundesrat muss die Vorteile einer engen Zusammenarbeit mit der EU wieder besser erklären und deutlicher dafür einstehen.