Die Verunsicherung an den Aktienmärkten ist mit Händen zu greifen. Was ist hier tagespolitische Emotion, und was betrifft strukturelle Veränderungen in der Weltwirtschaft. Mit Andrew Bosomworth von PIMCO, einer Investmentgesellschaft, beleuchten wir im folgenden Interview die Hotspots der Weltwirtschaft.
Geschäftsführer: Die Zeiten sind sehr volatil. Alte Gewissheiten verschwinden. Würden Sie dieser Eingangsthese zustimmen?
Andrew Bosomworth: Auf jeden Fall. Die Volatilität sehen wir jeden Tag an den Kursen an der Börse. Dahinter liegen dann auch oft Umbrüche und Verwerfungen in der realen Wirtschaft.
Wir müssen, um ein klareres Bild zu bekommen, offensichtlich differenzieren. Lassen Sie uns die Situation einiger Hotspots, die auch unser Anlageverhalten beeinflussen, skizzieren. Zum Beispiel die Schwellenländer. Sie sind, im Gegensatz zu der Situation von vor anderthalb Jahren, keine Vorbilder mehr. Kommen wir als Beispiel zu China. Es ist nicht mehr nur die verlängerte Werkbank der Weltwirtschaft. Was passiert da?
China befindet sich in einem Regimewechsel, was den Wachstumsmotor betrifft. Früher gab es immense Investitionen in die Infrastruktur, und der Fokus lag auf der Bedienung der Weltmärkte mit einfachen Produkten. Heute ist der Anteil der Investitionen am Bruttosozialprodukt zu hoch gestiegen. Es ist inzwischen auf einem instabilen Niveau angekommen. Die chinesische Regierung versucht nun, die Zusammensetzung des Bruttosozialproduktes zu ändern. Es geht um die Stärkung der internen Nachfrage. Binnenmärkte und die dementsprechende Nachfrage sollen gestärkt werden.
Kann man diesen Umschwung mit den historischen Entwicklungen vergleichen, die Japan in den Sechziger- und Südkorea in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts erlebt hat?
Der Vergleich ist interessant. Die Gemeinsamkeiten liegen in der volkswirtschaftlichen Umsteuerung. Es gibt aber auch Unterschiede. Die demografische Zusammensetzung Chinas unterscheidet sich komplett von den genannten Beispielen aus den Sechziger- und Achtzigerjahren. Die chinesische Bevölkerung wird älter.
Wird eine jüngere Generation einer erstarkenden Mittelklasse nicht in einigen Jahren auch politische Forderungen stellen?
Ja, das wird sie. Sie steht aber immer noch unter dem Einfluss der Generation, die Ende der Achtzigerjahre jung war und Ende der Achtzigerjahre den Aufstand gewagt hat. Sie hat das damalige Trauma bisher nicht überwunden. Daher kann dies noch einige Jahre dauern.
Die chinesische Kreditexpansion ist ein weiterer schwieriger Punkt.
Sie sagen es. Das ist ein zentraler Teil der chinesischen Herausforderung. Der Chefvolkswirt der Bank of England, Andrew G. Haldane, hat das gut zusammengefasst. Er spricht von einer «Trilogie der Krisen» der letzten Jahre. Es geht um die Immobilien- und Subprime-Krise in den USA, die Banken- und Südstaatenkrise im Euroraum und jetzt die Krise der Schwellenländer, zu denen ja China gehört. Der Verschuldungsgrad des privaten Sektors in China ist auf das Niveau gestiegen von Japan 1989, Irland 2006 und Spanien 2007. Selten sind derartige Kreditexpansionen ohne Rezession zu Ende gegangen.
Gibt es ein Bild, mit dem sich die Folgen dieser Ereignisse zusammenfassen lassen?
Es ist, als ob eine globale Welle der Liquidität über den Globus schwappt. Die Welle läuft von einem Wirtschaftsraum zum nächsten hin und her. Nehmen Sie eine zentrale Verhältniskennzahl: das Verhältnis zwischen Bruttoinlandprodukt und Kreditaufnahme. Seit vor gut zehn Jahren sind die Zahlen immer wieder gestiegen.
Worauf wollen Sie hinaus?
Die Gefährdung der Blasenbildung steigt mit jedem Konjunkturzyklus. Wir kennen das aus der Wirtschaftsgeschichte. Die Aufblähung des Kreditwachstums führt früher oder später zu Blasenbildungen, die dann auch platzen. In China können wir das beispielhaft beobachten.
Demgegenüber stehen aktuell die Schwellenländer Indien oder Mexiko, was ihre volkswirtschaftlichen Grunddaten betreffen, fast schon gut da, obwohl beide Länder gewaltige wirtschaftspolitische Probleme haben. In Indien ist es die weiter unglaublich offene Schere der Einkommensverteilung und in Mexiko die Vergiftung der Gesellschaft durch die vielfältigen Verflechtungen der Drogenökonomie.
Zunächst haben alle Schwellenländer bis vor einem guten Jahr von Geldzuflüssen profitiert. Die Geldwellen sind an ihren volkswirtschaftlichen Stränden angekommen, um in meinem Bild zu bleiben. Wichtig ist die Unterscheidung der jeweiligen Wechselkursregimes. China hat durch die feste Anbindung des Renminbi an den Dollar de facto seine Geldpolitik an die USA abgegeben. Mexiko und die anderen Schwellenländer dagegen lassen ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar frei bewegen.
Was ist da passiert?
Die USA haben ihre Geldpolitik ab 2008 massiv gelockert. Das ist dann unmittelbar auch so in China angekommen. China hat auch seine Fiskalpolitik gelockert, um hier am Ball zu bleiben. Jetzt gehen die US- und chinesischen Wirtschaftszyklen auseinander, und das Letzte, was China gerade braucht, ist, höhere Zinsen aus Amerika über den Wechselkurs zu importieren. Deswegen ist es in den vergangenen Monaten zu Börsenturbulenzen gekommen, und die Regierung hat mit ungeschicktem Eingreifen in die Aktienmärkte Vertrauen verspielt. Aber bitte vergessen wir nicht, China ist weiter die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt, die grösste Handelsnation und grösster ausländischer Inhaber von US-Staatsanleihen. Der Renminbi wird eher früher wie später zu einer internationalen Reservewährung werden. Das Gewicht Chinas in der Weltwirtschaft macht den Unterschied zu den anderen Schwellenländern aus. Lassen wir uns hier nicht vom tagespolitischen Abschwellen der Wachstumszahlen und Aktienturbulenzen blenden.
Blicken wir auf die USA. Wie lange hält der Aufschwung noch, und stehen wir vor einer Konjunkturwende?
Relativ betrachtet und auf den ersten Blick steht die US-Volkswirtschaft stark da. Schauen wir uns den Arbeitsmarkt an. In den letzten Jahren wurden da monatlich 223’000 neue Stellen im Durchschnitt geschaffen. Eine beindruckende Zahl. Die Frage ist hier, ob wir bei diesem Blick nicht in den Rückspiegel schauen? Wir schauen gerade auf das Wachstum der Vergangenheit und die Geschäftsentscheidungen der Vergangenheit, neue Jobs anzubieten. In den USA lebt der Konjunkturzyklus noch. Aber wir sind weit in der zweiten Hälfte. Es ist eine Frage der Zeit, wann das Wirtschaftswachstum sich verlangsamen wird. Im verarbeitenden Gewerbe gehen die Gewinne zurück. Der Binnenmarkt ist noch sehr stark, aber der Aussenhandel geht leicht zurück. Zudem ist der Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre in Teilen bei der unteren Mittelschicht nicht angekommen. Das ist ein Grund für den Erfolg der «Aussenseiterkandidaten» Bernie Sanders und Donald Trump bei den Nominierungswahlen der Parteien.
Europa steht besser da, wie erwartet, hat aber schwere politische Probleme vor sich.
Auch hier ist das Wirtschaftswachstum robust, wenn auch auf etwas niedrigem Niveau. Wir haben hier aber gewaltige politische Herausforderungen vor der Türe: die Wahlen in Frankreich nächstes Jahr, die Frage, wie die Flüchtlingsproblematik gelöst wird, und als Erstes ein möglicher Brexit diesen Sommer bereiten Kopfschmerzen.
Ja, die Renaissance des nationalstaatlichen Denkens ist da, und die Freunde von Europa kommen aus ihrem Krisenmodus nicht raus. Themenwechsel. Warum, stehen die Banken so schlecht da? Die Performance an den Börsen ist ja katastrophal.
Da kommen verschiedene Punkte zusammen. Banken haben Anleger verunsichert. Zunächst sind einige Banken ein Spielball der Politik geworden. Nehmen Sie die portugiesische Bank Novo Banco. Die portugiesische Zentralbank hat vorrangige Anleihen aus der Bank in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in eine Bad Bank verschoben. Es ging darum, einen europäischen Stresstest zu bestehen. Damit wurden die Rechte der Kreditgeber verunsichert. Auch in Italien gab es solche Fälle. Zweitens gibt es Signale in den Märkten, wie die sinkende Nachfrage nach Rohstoffen, dass wir auf eine Verlangsamung der Wachstumszahlen hinsteuern. Banken sind da an erster Stelle betroffen. Haben die Banken wirklich genug Kapitalpuffer? Drittens gab es ja ausreichend bekannte interne Fehler. Die Performance der Banken hat Schaden erlitten.
Sind wir eigentlich schon in einem Bärenmarkt?
Der Aufwärtstrend hat auf jeden Fall Grenzen erreicht. Im ersten Quartal 2009 war die letzte wirklich schwierige Zeit für Anleger. Wir sind heute noch nicht in einem Bärenmarkt, aber hinter der Fortsetzung des Bullenmarktes steht ein ganz grosses Fragezeichen. Schauen wir die Signale an – zum Beispiel der Abstand zwischen Swaps und Unternehmensanleihen. Sie deuten auf einen Wendepunkt hin. Wir stehen vor einer Gratwanderung: Es geht um ein letztes Quartal einer Expansion und vielleicht erstes Quartal einer Rezession. Es gibt Warnsignale bei den Fundamentaldaten. Die Kapitalabflüsse aus den Schwellenländern und die leicht deflationären Werte in den Industrieländern sind weitere Beispiele. Und es gibt offene, aber zentrale Fragen: in welcher Form die chinesischen Anpassungsprozesse eine Relevanz für die Weltwirtschaft haben. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass die Relevanz sehr hoch ist.
Weitere Informationen: www.switzerland.pimco.com