Ein Weckruf an die Unternehmensleitung
Als Headhunterin kenne ich die Sorgen, Herausforderungen und Bedürfnisse von Führungskräften, denn ich erlebe diese täglich hautnah. Heute Morgen hatte mein Kandidat – ein 40-jähriger Finanzleiter – Tränen in den Augen, als er mir von seiner Arbeit erzählte. Letzte Woche sprach ich mit einem CFO, der nach mehreren Monaten krankheitsbedingter Abwesenheit aufgrund eines Burn-outs wieder anfing, in Teilzeit zu arbeiten. Und die Woche davor musste eine Personalleiterin ein Afterwork-Event absagen, weil sie beim Verlassen des Büros eine Panikattacke hatte. Solche Geschichten höre ich drei- bis viermal im Monat.
Ich wende mich hier an die Unternehmensleiter*innen in der Schweiz. Ihre Führungskräfte leiden, ohne dass die Information zu Ihnen durchdringt. Über dieses Schweigen möchte ich sprechen, denn die Anzeichen machen sich tatsächlich bemerkbar. In Gesprächen mit Kandidat*innen höre ich jede Woche neue Berichte über Erschöpfung und Überlastung. Anfangs dachte ich, dies hinge mit meinem Job zusammen: Treffe ich als Recruiterin nicht nur die «unglücklichen Mitarbeitenden»? Doch nach gründlicher Recherche wurde klar, dass sich dieser Eindruck bestätigt. Mehrere Studien von 2023 und 2024 belegen: Die Schweiz hat die höchste Burn-out-Rate in Europa. Ich spreche hier von Führungskräften zwischen 36 und 55 Jahren. Sie wurden von der Boomer-Generation während des «Schweizer Jobwunders» eingestellt und sind darauf programmiert, Karriere im Unternehmen zu machen – im Gegensatz zu den folgenden Generationen, die als individualistisch und illoyal gelten. Aufgewachsen mit den Managementtechniken der 1990er- und 2000er-Jahre, ist diese Generation mit Slogans wie «excel or exit», «grow or go», «evolve or dissolve», «perform or perish» gross geworden. Für sie wäre es ein Versagen, von diesem Mantra abzuweichen. Nein zu sagen, hat man ihr nicht beigebracht. Doch die Anforderungen an Führungskräfte sind heute viel höher als früher. Das Volumen an Informationen, die zu verarbeiten sind, ist explodiert. Erinnern Sie sich daran, dass Sie zu Beginn des Internets weniger als zehn E-Mails pro Tag erhielten? Fragen Sie Ihre Führungskräfte, wie viele E-Mails sie heute täglich bearbeiten. Die Anzahl der Reportings ist gestiegen, die Prozesse und Kontrollen haben die Entscheidungsfindung komplex gemacht. Ganz zu schweigen von der Hyperkonnektivität, die Schlaf und Stresslevel beeinträchtigt. Diese neuartigen Herausforderungen sind kein Geheimnis. Was Sie vielleicht nicht wahrnehmen, ist, dass Führungskräfte, die vom Kerngeschäft entfernt sind, nicht die notwendige Motivation haben, den Sinn ihrer Arbeit verlieren und sich in der Leere erschöpfen. Sich beschweren? Das ist für die Führungskräfte unmöglich. Man hat ihnen 100-mal gesagt, dass sie privilegiert sind. Ein Stoppsignal wäre ein Eingeständnis von Schwäche. Also konzentrieren sie sich darauf, ihre Aufgaben zu erledigen, und nehmen sich vor, später darüber nachzudenken. Das Leiden und die Müdigkeit werden beiseitegeschoben: «Nach den Ferien wird alles besser.» Wie erkennt man dieses Leiden? Tatsächlich gibt es einige Anzeichen: Wenn Führungskräfte fragen, ob sie «einen Coach nehmen» oder «eine Pause machen» dürfen, um einige Monate «eine Weiterbildung zu absolvieren», ist das oft ein Hinweis. Ein Manager spricht davon, «nebenbei ein Start-up zu gründen»? Hören Sie genau hin, es passiert etwas. Eine 47-jährige Mitarbeiterin sagt Ihnen, dass sie «im Moment ein wenig müde» ist. Achtung, Überlastung! Es werden E-Mails spät in der Nacht gesendet? Das ist kein Zeichen von Engagement, sondern von Erschöpfung – und zwar einer Generation, die sich indirekt ausdrückt. Hören Sie auf ihr Schweigen!