Unsere Bilder von China sind durch negative Schlagzeilen, viele Klischees und Halbwissen geprägt – und das seit Jahrzehnten. Dabei ist überdeutlich, dass China ökonomisch und geostrategisch langsam, aber sicher in eine Vormachtstellung hineinwächst. Ganze Branchen wie die Solarbranche werden inzwischen von China dominiert. Auch der Alltag der Digitalisierung ist dort auf einer anderen Stufe. Bezahlen über Gesichtserkennung ist hier nicht vorstellbar. Und schon beginnt die emotionale Schnappatmung. Wir werfen daher im folgenden Interview mit Mario Geniale, dem Chief Investment Officer der Bank CIC (Schweiz) AG, einige nüchterne Blicke auf die Grossmacht, bevor wir zum Thema Anlegerland China kommen.
Wir alle haben von China Bilder im Kopf, die meistens sehr polarisiert sind. China ist schon seit Jahrzehnten für viele eine Bedrohung, und das mit unterschiedlichen Hintergründen. Inzwischen ist es die weltweit zweitgrösste Volkswirtschaft und dadurch für einige auch ein Vorbild. Welche Bilder von China sollten wir im Kopf haben?
Um hier etwas Ruhe in die hektische Debatte zu bringen, empfehle ich die Sichtweisen von Konfuzius und Tao. Es geht bei den zentralen Denkern Chinas um die Zusammenhänge aller Dinge im Ganzen des – den Menschen und sein Handeln einschliessenden – Kosmos. Dadurch entsteht eine Harmonie, die aber keine «Yogawohlfühlveranstaltung» ist, sondern in strategischer Machtpolitik mündet. Daraus ergeben sich pragmatische, aber nicht fatalistische Sichtweisen. Dies mündet in ein sehr langfristiges Denken. Natürlich gibt es die fast schon tagespolitischen Fünf-Jahres-Pläne der Wirtschaftspolitik in China. Aber eigentlich haben die Verantwortlichen einen Generationenplan als Referenzfolie. Wer in diese Richtung denkt, hat aus meiner Sicht eine bessere Grundlage, um China zu verstehen, dessen Handeln nachvollziehen zu können und last but not least auch sein Anlageverhalten zu optimieren.
Gibt es eine Überschrift, mit der Sie diese langfristige Strategie zusammenfassen würden?
Das ist schwierig, aber vielleicht passt «allumfassende Ordnung» am besten. Man versteht dann, warum aus kurzfristigem Blickwinkel das Handeln nicht nachvollziehbar ist – beispielsweise, warum in den letzten Monaten eben schwächeres Wachstum und auch fallende Börsenkurse in Kauf genommen wurden. Vor einer Referenzfolie einer langfristigen Strategie kann man das analytisch viel besser einordnen.
Das ist aber schon ein Clash der Kulturen, wenn man es mit unseren Denkmustern vergleicht. Nehmen wir nur unser Starren auf die Quartalszahlen. In der Politik geht es maximal um eine Legislaturperiode, die vier oder fünf Jahre umfasst. Und dann kommen die vielen Vorurteile gegenüber China dazu.
Ja, lange haben die Chinesen aus unserer Sicht nur kopieren können und waren die verlängerte Werkbank der globalen Ökonomie. Jetzt schwärmen chinesische Firmen aus und versuchen, ihre Produkte und Dienstleistungen mit sehr viel Marktpower global an die Frau und den Mann zu bringen. Da ist was dran …
… nehmen wir nur das Beispiel der Solarbranche. Vor zwanzig Jahren gab es eine aufstrebende Solarbranche in Europa. Heute wird der Massenmarkt für Solarpanels von China dominiert und europäische Hersteller müssen Nischen finden.
Das Aufrollen des gesamten Weltmarktes in der Solarbranche war in China nur mit massiver staatlicher Unterstützung möglich. China investiert auch sonst sehr stark in Infrastruktur und Verkehrswege. Das Land will in wichtigen Branchen überall Marktanteile gewinnen.
Umgekehrt gibt es aber auch schon fast euphorische Bilder. Heute hören wir Analysten, die auf europäischen Wirtschaftspanels empfehlen, dass man seinen Kindern doch bitte die chinesische Sprache beibringen soll.
Wir dürfen nicht vergessen: Die wachsende Macht und der Einfluss Chinas auf die Weltpolitik sind auch bei nüchterner Betrachtung Fakt.
Ja, in Afrika hat China fast einen ganzen Kontinent für sich. Europa und die USA haben sich weitgehend zurückgezogen. Jede Woche kann man wieder von einem Hafen, einer Bahnlinie oder einer neuen Stadt lesen, die mit chinesischen Investitionen entsteht. Das Projekt der Seidenstrasse ist sicher das bekannteste.
Vorsicht, das ist nur ein Baustein! Nehmen wir ein drastisches Beispiel: China baut ein Kohlekraftwerk in Bangladesch.
Und das in einem Land, welches mit steigenden Wasserspiegeln wegen des Klimawandels besonders gefährdet ist.
Aber jetzt kommt die Kehrtwende. China will extern nicht mehr auf Geschäftsmodelle mit fossilen Brennstoffen setzen. Da bewegt sich etwas und zwar in einer Massivität und Beschleunigung, die uns noch überraschen werden.
Das ist der Unterschied zu Indien. Dort hat man auch Energiehunger. Aber man setzt auf jede Energiequelle. China geht da schon strategischer vor.
Ja, die chinesischen Verantwortlichen können Massnahmen von oben verordnen und viel schneller umsetzen als ihre Pendants in der EU, den USA, der Schweiz oder auch Indien, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben.
Wie lässt sich die Entwicklung der letzten Jahre in China kategorisieren? Mir scheint, bis vor zwei Jahren standen Wachstum und die strategische Bearbeitung von Märkten und anderen strategisch wichtigen Ländern im Vordergrund. Intern ermöglichten exorbitante Wachstumszahlen einen gesellschaftlichen Konsens. Dies ist der Blick in die Vergangenheit. Heute spielt dies alles weiter eine wichtige Rolle. Das Thema Regulierung ist nun aber dominant auf der Bühne zurück. Der Konflikt mit Alibaba ist vermutlich nur das bekannteste Beispiel. Auch der Immobiliensektor erlebte und erlebt Turbulenzen. Da liegt doch die Frage nach Regulierung nahe?
China hat sehr lange auf eine massive Exportstrategie gesetzt. Der Weltmarkt wurde mit günstigen Produkten geflutet. Die Einnahmen hat man auch dafür verwendet, intern eine wachsende Mittelschicht bei Laune zu halten, damit da politisch nichts anbrennt.
Heute kann man in China nicht mehr nur auf diese Strategie setzen, da viele andere asiatische Länder auf diesen erfolgreichen Zug aufgesprungen sind. Es geht nun seit einigen Jahren in China darum, den eigenen Binnenmarkt mehr in den Fokus zu nehmen. Der eigene Konsum soll angekurbelt werden. Die hohe Sparquote in China ist ja bekannt. Die Gesellschaft war und ist eine Manufaktur für die Welt, jetzt gewinnen aber die Bedürfnisse und Voraussetzungen für eine Dienstleistungsgesellschaft an Bedeutung.
Sie haben Alibaba angesprochen. Um was geht es da eigentlich? Solche Technologiefirmen bekommen in einer wachsenden Dienstleistungsgesellschaft immer mehr Macht, da sie mit immer mehr Informationen, sprich Daten, arbeiten können. Hier stimmt der Satz, dass Daten das Öl des 21. Jahrhunderts sind. Es gibt inzwischen auch riesige Retailer, die Kredite vermitteln. Die ANT Group ist das höchstbewertete Finanztechnologieunternehmen der Welt. Da bleibt aber vieles intransparent – und das bei unglaublich hohen Volumina. Wie hoch sind diese Kredite? Wie sieht es mit der Rückzahlung aus? Die politisch Handelnden wollen hier wieder Kontrolle haben. Da ist offensichtlich einiges entglitten.
Dazu passt ja auch der hektische Immobiliensektor mit dem schwächelnden Riesen Evergrande. Einige Analysten sprechen von einer riesigen Blase.
Dass politisch Handelnde einen Überblick haben wollen, ist verständlich. Hier in der Schweiz ist das auch nicht anders. In China haben sich Technologiefirmen unglaublich schnell entwickelt. Die Regulierungen fehlen und die Verantwortlichen wollen einen Überblick. Solche Konglomerate beinhalten ein enormes strategisches Risiko.
Springen wir in die Praxis. Es gibt drei unterschiedliche Aktienmärkte: Shanghai Stock Exchange, China Securities Index 300 Composite Index und Hang Seng Index. Wo liegen hier die Unterschiede zu den europäischen Aktienmärkten?
Ich würde dies weniger von den Indizes her betrachten. Es gibt A-Shares, B-Shares und H-Shares. Das H bezieht sich auf Honkong. Das sind chinesische Aktien, die in Hongkong gelistet sind und dementsprechend auch in Hongkong-Dollar gehandelt werden. Sie stehen unter der chinesischen Rechtsprechung, sind aber frei erhältlich. A-Shares sind in Renminbi
(Yuan) notiert, und zwar an den Börsen in Shanghai oder Shenzhen. Nichtchinesische Anleger dürfen in A-Aktien nur investieren, wenn sie ausgewählte institutionelle Investoren
sind. B-Shares sind chinesische Aktien, die in ausländischer Währung gehandelt werden, ebenfalls notiert in Shanghai (meist US-Dollar) oder in Shenzhen (meist Hongkong-Dollar). Dieses Segment wurde für Ausländer geschaffen.
Wenn man so nah wie möglich an chinesischen Märkten dran sein will, dann ist die Hongkonger Börse diejenige, die am meisten Sinn macht. Das ist aber meist nur etwas für Grossinvestoren. Mein Haus, die Bank CIC (Schweiz) AG, geht viel häufiger an die US-amerikanische Börse, um mit chinesischen Papieren zu handeln.
Sie nehmen den Umweg über die USA?
Nein, das ist und war kein Umweg. Wenn wir zum Beispiel Alibaba anschauen, dann gehen wir auf die amerikanische Börse. Das ist wie früher, als IBM-Aktien an der Schweizer Börse gehandelt wurden. In letzter Zeit gab es aber Signale, die mit den von uns vorher angesprochenen Reaktionen der chinesischen Regierung zu tun haben.
Wie kann ich mir das vorstellen und gibt es dafür ein Beispiel?
Nehmen wir Didi. Es ist ähnlich wie Uber eine Ride-Share-Plattform, aber eine chinesische Firma. Didi Global ging am 30. Juni 2021 in New York an die Börse. Am 2. Juli, zwei Tage nach dem Börsengang, hat die chinesische Regierung Ermittlungen gegen die chinesische Mutterfirma Didi Chuxing eingeleitet und Strafen ausgesprochen.
Das ist ein klares politisches Signal.
Ja, die chinesische Internetindustrie soll einen klareren Handlungsrahmen bekommen. Und da wird nicht mit Samthandschuhen gearbeitet.
Und das Datum passt zum 100-jährigen Bestehen der Kommunistischen Partei Chinas in Peking. Vermutlich ist Didi daher auch kein Einzelfall.
Ja, da gibt es noch einige Beispiele. Tencent wollte mit anderen Streaming-Diensten fusionieren. Das wurde nichts. Abgesagt wurden auch US-Börsengänge von Link- Doc und Keep, einer Gesundheits-App, sowie Ximalaya, einer Video-Blogger-Plattform. China will Finanzakteure in ihren Börsenrahmen holen, damit es Kontrolle ausüben kann.
Was heisst das nun für den Investor, sprich die Bank CIC und Ihre Kunden?
Wir empfehlen sehr selten Direktanlagen in chinesische Aktien. Natürlich kann man grössere Player wie Alibaba im Fokus haben. Normalerweise geht es bei uns und unseren Kunden, auch wenn wir nach China schauen, um ETFs, Exchange Traded Funds. Wir setzen uns mit unseren Kunden zusammen und überlegen eine passende und meist breit aufgestellte Lösung im Rahmen dieser Funds. Da ist das Risiko viel geringer, als wenn wir direkt in die Papiere eines Unternehmens investieren.
Aus der von uns analysierten Situation heraus kann man zum Schluss kommen, dass es besser ist, mit chinesischen Aktien aktuell sehr vorsichtig zu sein.
Nein, das ist eine falsche These, ausser man ist im Februar dieses Jahres mit einer Erwartung des schnellen Geldes eingestiegen. Dann musste man leiden. Mit einer langfristigen und eher nüchternen Vorgehensweise muss man das aber nicht.
Die chinesische Börse, gerade mit den Tech-Titeln, hat bis Ende Februar 2021 eine unglaubliche Performance hingelegt. Dann gab es Korrekturen aus denjenigen Gründen, die wir angesprochen haben. Trotzdem glauben wir an den chinesischen Markt. Wir sind aber bislang vergleichsweise bescheiden aufgestellt. Wir haben China erst kürzlich in unsere Pensionskasse aufgenommen. Aber auch dort geht es um eine breite Aufstellung. Der Rahmen ist hier der Multivariate Standardized Drought Index (MSDI). Wir sind keine Chinesen. Aber in einer Pensionskasse haben die Verantwortlichen auch eine mittelfristige und langfristige Perspektive. Es gibt allerdings noch weitere Argumente, die für einen Einstieg sprechen. Der chinesische Aktienmarkt ist im Vergleich zum US-Markt immer noch sehr tief bewertet. Das wird sich tagespolitisch nicht schnell verändern. Aber «in the long run» sieht es aus unserer Sicht gut aus – deshalb auch unser vorsichtiger Einstieg.
Welche Ihrer Zielgruppen interessieren sich für China?
Unsere Kundenbasis ist schon rein quantitativ breit aufgestellt. Wir beginnen bei 100’000 Franken und dann geht es bis zu dreistelligen Millionenbeträgen. Das ist eine sehr heterogene Gruppe. Trotzdem kann man eine Zielgruppe, die auch klar zunimmt, herausdestillieren: die High Net Worth Individuals. Das sind meist Unternehmerinnen und Unternehmer, die Teile ihrer Firma oder auch die ganze Firma verkauft haben, sich dann zurückziehen und nun bei uns investieren wollen. Wir setzen uns dann an einen Tisch und besprechen die unterschiedlichen Visionen und Szenarien. Es geht immer auch darum, dass sich die Kundin oder der Kunde wohlfühlt. Sie oder er will oft auch einen Bezug zum Produkt haben. Da kommt das ganze Spektrum auf den Tisch. Es geht um Technologie,
Emerging Markets, Gold oder Blockchain. Das sind unterschiedliche Welten. Nun kommt es auf die richtige Mischung im Portfolio an. Bei dieser Zielgruppe ist das Thema China mit dabei. Sie hat ein unternehmerisches Denken in einer globalen Welt. So will sie an der langfristigen und auch spannenden Entwicklung Chinas teilhaben. In der Zusammenstellung des Portfolios ist China deshalb effektiv ein Thema.