Die digitale Transformation und der Wunsch nach neuen Teilzeitmodellen, die eine reale Work-Life-Balance mit sinnstiftenden Aktivitäten neben der Haupttätigkeit zulassen, gewinnen seit Jahren stark an Bedeutung. Die Menschen suchen heute ein Arbeitsumfeld, das die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlaubt und das von Teamarbeit in guter Atmosphäre geprägt ist.
Viele Unternehmungen sind noch immer im traditionellen Führungsverständnis verankert, bei dem eine Führungsperson die Hauptverantwortung übernimmt und die anderen ihr folgen (Wellman, 2017; Uhl-Bien et al., 2018). Dieses heroische Führungsverständnis ist nicht mit der ausserordentlichen Vormachtstellung wie in Dynastien (Clans) oder von Eigentümern mit grossem Vermögen zu verwechseln, die diesen Diktatoren zu ihrer absoluten Macht verhelfen. Die charismatische und die effizienzorientierte Führung als Unterarten des heroischen Leaderships basieren auf der Überzeugung, dass der Leader mehr weiss und kann als alle anderen.
Wie kam es zu dieser Heldengeschichte?
Durch die Professionalisierung des Managements ab den 1950er-Jahren und der Kapitalmärkte ab den 1980er-Jahren bekamen die Erkenntnisse der Ökonomie eine immer grössere Bedeutung in der Führung und Strategie (Barney et al., 2018). Der führende Ökonom der Unternehmenstheorie, Oliver E. Williamson, erklärte, wann Hierarchie und wann Märkte effizienter zur optimalen Koordination der Produktion sind (Williamson, 1971). Der sogenannte «Need to Produce» in gut funktionierenden Märkten ermöglichte Unternehmen ein rasches Wachstum, indem sie die Koordination von Hierarchien immer effizienter ausloteten. Mitarbeitende, passive Follower, zeichneten sich durch immer spezifischere Fachkenntnisse und Leistungsfähigkeit aus, während die Führungskräfte durch diese institutionalisierte Hierarchie eine immer grössere und uneingeschränkte Macht erhielten. Sie verfügten über eine hohe Führungskompetenz und Erfolgsorientierung, die zu wahren Weltreichen dieser Führungskräfte und ihrer Unternehmungen führte. Percy Barnevik war einer der Begründer des daraus resultierenden «Heroic Leaderships», welches die Führungskräfte zu den eigentlichen Stars in der Gesellschaft werden liess.
Die charismatische Führung wurde häufig als attraktive Variante zur effizienten Führung thematisiert. Charismatische Leader sind in der Lage, Visionen für noch unerkannte Wünsche der Menschen zu erkennen und andere dafür zu begeistern. Zu Beginn des disruptiven technologischen Wandels haben sich dabei Führungskräfte wie Bill Gates, Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Elon Musk positionieren können. Zuckerbergs neueste Vision von Metaverse ist das aktuellste Beispiel dafür. Wenn man ihr Führungsverhalten analysiert, erkennt man, dass die Hierarchien damit noch absoluter werden und von den Mitarbeitenden hohe Motivation und Loyalität gefordert wird. Gerade bei Facebook resp. Metaverse ist diese Loyalität nun stark am Bröckeln, wie es das letzte Whistleblower-Ereignis mit Frances Haugen gezeigt hat.
Die charismatische Führung hat also den Heroismus der Führungskräfte noch mehr verstärkt. Die Häufung von sozialer Inkompetenz und Selbstüberschätzung dieser selbsternannten Helden macht aber deutlich, dass sich ihre Ära dem Ende zuneigt. Zudem werden Unternehmungen und Organisationen heute als attraktive Arbeitgeber wahrgenommen, wenn sie gute Arbeitsbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine sinnstiftende Arbeit bieten. Auch die fatalen Vernachlässigungen im gesellschaftlichen Bereich von zunehmend sozialen Ungleichheiten – wie Rassismus und Sexismus – und in der natürlichen Umwelt mit dem Klimawandel fordern ein neues Leadership heraus, welches auf Zusammenarbeit und nicht auf Heldentum basiert. Für Einzelkämpfer in den Führungsetagen wird die Luft zunehmend dünner.
Zusammen in die Zukunft
Studien belegen, dass komplexe Herausforderungen, mit denen wir heute in Wirtschaft und Gesellschaft konfrontiert sind, nicht alleine gelöst werden können (Rühli et al., 2017; Sachs et al., 2011). Ein kollaboratives Führungsverständnis verspricht unter diesen Bedingungen einen einzigartigen Mehrwert, von dem Unternehmen und Institutionen der Zukunft deutlich profitieren werden. Damit verschieben sich die handlungsrelevanten Kompetenzen in der Führung: Sozialkompetenzen und Führungskompetenzen für alle werden zu eigentlichen Schlüsselkompetenzen (Gaito et al., im Druck).
In Unternehmungen und Organisationen zeigt sich, dass in Zukunft vor allem die Form der Ambidextrie im Leadership mit gleichzeitiger Innovation und Effizienz gefordert sein wird (Stutz et al., 2020; Sachs et al., 2021). Ein Grund dafür ist, dass Unternehmungen einem vermehrten Innovationszwang ausgesetzt sind. Nur diejenigen Unternehmungen, die immer wieder innovative Lösungen für die drängenden Herausforderungen mittels neuartiger Produkte resp. Dienstleistungen erbringen, sind zukunftsfähig. Um die Investitionskraft für diese Innovationsnotwendigkeit aufrechtzuerhalten, besteht aber auch die Notwendigkeit der Produktion. Diese ständige Weiterentwicklung der operativen Fähigkeiten für die Effizienz sichert der Unternehmung die finanzielle Basis für die organisationale Zukunftsfähigkeit.
In dieser strategischen Situation braucht es Menschen mit vielfältigen Fähigkeiten. Beziehungsarbeit ist in einer Co-Führung angesagt, die von Vertrauen, Respekt und Wertschätzung getragen werden muss (Mölleney et al., 2019). Im Zuge einer kürzlich durchgeführten Expertenbefragung wurde offensichtlich, dass die institutionelle Führung an Bedeutung abnehmen wird und dass immer mehr Mitarbeitende Führungskompetenzen übernehmen werden (Gaito et al., im Druck). Mitarbeitende mit multiplen Fähigkeiten werden demzufolge in Zukunft sogenannte aktive Mitarbeitende sein. Und sie werden die Leader immer wieder konstruktiv herausfordern. Konstruktive Kommunikation, sich gut auf verschiedene Kontexte und Menschen einstellen können und gegenseitiges Vertrauen sind wesentliche Fähigkeiten zum Bestehen in fluiden Hierarchien. Wer keine Kooperationsfähigkeit entwickeln kann oder will, wirkt desintegrativ und damit kontraproduktiv. Proaktives Umdenken verlangt nach einem Kennenlernprozess, der einer Beziehungsarbeit gleicht.
Kollaborative Führung in der Umsetzung
Welche Formen von Zusammenarbeit in der Führung kennen wir bereits? Eine erste Form ist das Topsharing, welches ein Jobsharing für Führungspersonen darstellt. In der Schweiz kennen wir noch wenige Beispiele. Häufig wird diese Form gewählt, damit gut qualifizierte Personen Führungspositionen und Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Einklang bringen können. Bekannte Beispiele sind etwa die beiden Chefärztinnen Stephanie von Orelli und Natalie Gabriel der Frauenklinik des Stadtspitals Triemli, die beiden Staatsanwältinnen
Jacqueline Bannwarth und Patrizia Krug oder die Leiterinnen Anna Kristin Koch und Manuela Staub des Bereichs Unternehmungskommunikation bei Swisscom. Ich selbst habe mit meiner Kollegin Andrea Keller Pfrunder von 1994 bis 2000 das erste Topsharing in einer Professur an der Universität Zürich erlebt. Vorteile sind, dass unterschiedliche Kompetenzen zusammenkommen. Geboten wird die Möglichkeit, zusammen die Herausforderungen zu besprechen und zu lösen – bei gleichzeitig grösserer zeitlicher Flexibilität, die auch die Betreuung unserer Kinder möglich machte. Ich möchte die Erfahrung nicht missen und habe viel für meine spätere Karriere und Führungstätigkeit mitgenommen.
Eine weitere Form ist die Bossless Corporation, die bei holokratischen Unternehmungen wie Freitag oder Liip gelebt werden. In diesen Unternehmungen werden die Aufgaben verschiedenen Rollen zugewiesen, die in themenspezifischen Kreisen zusammenarbeiten. Im Vordergrund steht der aktive Mitarbeitende, der unternehmerische Verantwortung übernimmt und mitgestaltet. Diese selbstbestimmten Organisationen entwickeln klare Regeln, wie sich die Zusammenarbeit möglichst innovativ und effizient gestalten soll.
Viele Unternehmungen aller Branchen sind zurzeit auf der Suche nach ihrer geeigneten Form von kollaborativem Führungsverständnis. Unternehmungen müssen ihre HR-Praktiken grundlegend überdenken, vom Rekrutierungs- über den Weiterentwicklungsprozess bis hin zum «Out»- Sourcing (Entlassung). Das kollaborative Führungsverständnis gibt in Zukunft den Mitarbeitenden mehr Freiraum für die persönliche und berufliche Weiterentwicklung. Diese Entwicklung begünstigt die geforderte Reduktion des Fachkräftemangels. Letztlich verfügen diejenigen Unternehmen über intrinsisch motivierte und kompetente Mitarbeitende und Führungskräfte, die sinnstiftend sind und über geeignete organisationale Rahmenbedingungen wie respektvolles Arbeitsklima, psychologische Sicherheit der Mitarbeitenden und klare strategische Ausrichtungen verfügen.
Literaturverzeichnis
> Alvarez, S. & Sachs, S. (2021). Where do stakeholders come from? Academy of Management Review. https://doi.org/10.5465/amr.2019.0077.
> Barney, J. B. & Mackey, A. (2018). Monopoly profits, efficiency profits, and teaching strategic management. Academy of Management Learning & Education, 17(3), 359–373.
> Gaito, T., Sachs S. & Demasi R. Betriebswirtschaftliche Berufsbilder erfolgreich transformieren: Zukunftsfähigkeit von Führungspersonen und Mitarbeitenden. ZFO Zeitschrift Führung + Organisation. Im Druck.
> Mölleney, M. & Sachs, S. (2019). Beyond leadership (1. Auflage ed.). Zürich: Verlag SKV AG.
> Rühli, E., Sachs, S., Schmitt, R. & Schneider, T. (2017). Innovation in multistakeholder settings: The case of a wicked issue in health care. Journal of Business Ethics, 143(2), 289–305.
> Stutz, C., Demasi, R. & Sachs, S. (2021). Zukunftsfähige Unternehmen in der VUCA Welt: Commitment der Mitarbeitenden als wesentlicher Erfolgsfaktor. ZFO: Zeitschrift
Führung + Organisation, 2021(2), 110–115.
> Sachs, S. & Mölleney, M. (2021). Strategie-Hackathon. Zürich: Verlag SKV.
> Sachs, S. & Rühli, E. (2011). Stakeholders matter – A new paradigm for strategy in society. Cambridge: Cambridge University Press.
> Uhl-Bien, M. & Arena, M. (2018). Leadership for organizational adaptability: A theoretical synthesis and integrative framework. The Leadership Quarterly, 29(1), 89–104.
> Williamson, O. E. (1971). The vertical integration of production: Market failure considerations. The American Economic Review, 61(2), 112–123.
> Wellman, N. (2017). Authority or community? A relational models theory of group-level lead-ership emergence. Academy of Management Review, 42(4), 596–617.
Prof. Dr. Sybille Sachs ist Gründerin und Leiterin des HWZ-Instituts für Strategisches Management: Stakeholder View und Professorin für Betriebswirtschaft an der Universität Zürich, an welcher sie die Vorlesung «Business and Society» institutionalisiert hat. Sie hat zahlreiche Publikationen im Bereich Leadership und Strategie veröffentlicht und begleitet Unternehmungen in deren Entwicklung und Umsetzung. Sie hat selbst Topsharing gelebt, die ersten sechs Jahre hatte sie ihre Professur mit einer Kollegin geteilt (1994 bis 2000).