Weltweit bewegen sich die Börsen zwischen immer neuen Höchstständen einerseits und Blasenbildungen und Abstürzen andererseits. Da braucht es professionelle Markteinschätzungen und proaktive Informationen, um mögliche Risiken nicht aus den Augen zu verlieren. Nur dann besteht die Chance, einen Überblick und die Weitsicht für die Umsetzung von Anlageentscheiden zu behalten. Wir führten mit dem Chief Investment Officer der Bank CIC, Mario Geniale, ein Interview.
Die Situation an den Finanzmärkten ist für mich ein bislang historisch einmaliges und gigantisches Experiment. Der Ausgangspunkt: Die Notenbanken fluten mit billigstem Geld die Märkte – und das seit der Finanzkrise von 2008. Wie skizzieren Sie die Situation?
Ja, es geht schon seit Jahren so und wird auch noch einige Jahre im gleichen Stil weitergehen. Wir haben seit 2008 immer wieder Krisen zu bewältigen, zuletzt die einer globalen Pandemie. Fast die einzige «Medizin» dagegen, die die Zentralbanken immer wieder anbieten, ist vermehrte Liquidität.
Ist das nicht eine ewige Hängepartie mit ungewissem Ausgang?
Es erinnert mich an die fast schon stagnierende volkswirtschaftliche Entwicklung Japans in den beiden letzten Jahrzehnten. Natürlich versucht beispielsweise die FED (US-Zentralbank), in den USA immer wieder einmal einen Testballon zu starten und wenigstens theoretisch mit einem Anheben der Zinsen zu spielen. Doch dann gibt es wieder eine Krise oder eine unvorhersehbare Herausforderung wie aktuell die gigantischen Infrastrukturprogramme in den USA, und es wird wieder dieselbe «Medizin» verabreicht.
Das viele Geld wird aber kaum klassischerweise in Unternehmen investiert, sondern in unterschiedlichste Finanzanlagen verschoben. Dadurch steigen die Kurse, obwohl dies die Realwirtschaft in Teilen schon seit Jahren gar nicht mehr hergibt.
Das ist so. Hart gesagt geht es um Zombie-Unternehmen, die gar nicht in die Insolvenz gehen können, da sie durch die nichtvorhandenen Zinsen künstlich am Leben gehalten werden. Man pflastert an den Symptomen herum und verhindert so eine Generalüberholung.
Jetzt greifen zudem vermehrt noch staatliche Akteure in das Geschehen ein?
Ja, in der Pandemie hat man den Bürgerinnen und Bürgern Geld zukommen lassen – entweder durch das Kurzarbeitergeld oder durch direkte Zahlungen wie in den USA. Dieses Geld wurde zum Teil in den Konsum gesteckt. Wir sehen das Geld aber auch an den Börsen. Das ist eine neue qualitative Stufe.
Das ist mit dem Stichwort Helikoptergeld gut auf den Punkt gebracht. Und es gibt in der Folge neue Akteure am Markt, die in sehr hohe Risiken einsteigen. Konkret heisst das: auf Unternehmen wie GameStop setzen, deren Geschäftsmodelle ihren Zenit eigentlich schon überschritten haben. Da könnte ich jetzt noch einige Beispiele aufzählen. Die klare Folge: Risiken von Blasenbildungen haben aus diesem Grund zugenommen.
Es gibt Hype-Themen, die sich auf verschiedenen Plattformen gegenseitig befeuern und so jenseits von realwirtschaftlichen Rahmenvorgaben gewissermassen ausufern können. Die sehr volatilen Kurse von Kryptowährungen sind ein Beispiel.
Versicherer, Pensionskassen und Privatanleger kaufen grössere Mengen an Junk-Anleihen, um die schrumpfenden Renditen zu kompensieren. Hier werden Investoren doch fast schon gezwungen, sehr hohe Risiken einzugehen.
Wenn die Schweizer Pensionskassen ausserhalb des Triple-A- oder Triple-B-Spektrums investieren, ist es per Definition eine alternative Anlage. Es gibt auch in der Schweiz Obligationen im Zweifach-B- sowie im Single-B-Bereich.
Richtig ist, dass die Akteure grössere Mengen an Junk-Anleihen kaufen, um die schrumpfenden Renditen zu kompensieren. Dadurch sind Investoren gezwungen, Allokationen in Anleihen mit BB-Rating zu tätigen. Die durchschnittlichen Renditen für USD-Anleihen mit CCC-Rating lagen im Mai bei 6.1 Prozent und damit auf dem niedrigsten Stand aller Zeiten. In Europa liegen die CCC-Renditen bei 5.8 Prozent, dem niedrigsten Stand seit 2017, was einen Rückgang von 19 Prozent gegenüber dem Höhepunkt der Pandemie im vergangenen Jahr darstellt.
Die riesige Menge an Liquidität führt zu einem zunehmenden Risiko einer Blasenbildung bei Hochzinsanleihen. Die Anleger kaufen aufgrund fehlender Anlagemöglichkeiten Anleihen von Non-Investment-Grade-Unternehmen. Daher haben sich die Spreads von Anleihen in diesem Jahr auf ein Niveau verengt, das seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen wurde.
Wie beraten Sie Ihre Kunden vor dem Hintergrund solcher Situationen und Szenarien?
Das Problem der negativen Verzinsung von Obligationen im Anlagebereich ist allgegenwärtig, aber wir warnen unsere Kundinnen und Kunden vor einer Erhöhung des Portfoliorisikos, nur um ein paar Basispunkte Rendite zu erwirtschaften. Es gilt, sehr vorsichtig zu sein. Gleichzeitig muss man sehen, dass sich die Renditen grösstenteils auf Tiefständen befinden, auch im historischen Vergleich. Man wagt immer mehr Risiko, weil es ja mehr Rendite bringen könnte. In der Folge stimmen Risk und Return nicht überein, was das Anlageverhalten betrifft. Das heisst allerdings nicht, dass man die Finger davonlassen sollte. Wir empfehlen, individuelle Lösungen zu suchen und im Rahmen von breit aufgestellten Fonds zu agieren. Das sind sogenannte Satelliten-Strategien, die als Beimischung fungieren.
Sie präferieren die Grautöne und keine Schwarz-Weiss-Gemälde?
Absolut. Ich kann Ihnen auch verraten, wie wir das strategisch angehen. Man lässt als grundsätzliche Strategie an den Aktienmärkten die Gewinne laufen, aber man betrachtet die Entwicklungen immer im Verhältnis zum Gesamtportfolio. Wenn die Märkte gut laufen, erhöht sich die Aktienquote, da die Aktien besser performen als die anderen Anlageklassen. Von Zeit zu Zeit muss man neu austarieren, auch um Gewinne zu sichern. Die Quote sinkt entsprechend wieder. Das ist in dieser hektischen Situation ein sehr pragmatischer Ansatz.
Das hört sich sehr nüchtern an.
Wir wissen nicht, wie sich der Markt morgen entwickelt. Wir haben aber immer wieder Ideen, und dann geht es um eine richtige Chancen-Risiken-Abwägung. Die Wahrscheinlichkeit von Rückschlägen nimmt zu. Das kann man historisch belegen, aber auch mathematisch mit Modellrechnungen durchgehen. Statt in Panik auszubrechen, handeln wir bei Warnungen vorsichtiger und setzen auf andere Anlageklassen.
Ein weiteres, aktuell heftig diskutiertes Stichwort heisst Inflation. Kommt sie oder kommt sie nicht? Älteren Marktteilnehmern steckt noch die Inflation der Siebzigerjahre in den Knochen, und laut einigen volkswirtschaftlichen Theorien müsste die Inflation längst da sein.
Die Notenbanken beschwichtigen hier. Klar, sonst müssten sie ja auch an den Zinsen drehen. Wir gehen davon aus, dass die Inflation für einen gewissen Zeitraum hoch bleiben wird. Es gibt hier einige klare Basiseffekte, zum Beispiel den Ölpreis. Was wir uns vorstellen könnten, ist eine gewisse Rotation durch unterschiedliche Produktgruppen und Branchen hindurch. Ein gutes Beispiel der letzten Monate ist der Holzpreis. Er ist geradezu explodiert, hat sich jetzt aber wieder auf einem leicht erhöhten Niveau eingependelt.
Eine höhere Inflation, die einige Punkte über den angestrebten zwei Prozent liegt, ist durchaus im Sinne der Notenbanken und der Staaten, da die Schulden so «weginflationiert» werden. Das kann sich folglich noch zwei, drei Jahre hinziehen.
Ihr Haus setzt auf Tradition und Innovation. Das ist in diesen Zeiten der Umbrüche und schnellen Entwicklungen auch ein nicht ganz einfacher Spagat. Wie bekommen Sie diesen hin?
Es geht hier um die Diskussion, die um das Thema Mensch und Maschine kreist. Auch hier wünsche ich mir eine nüchternere Debatte. Bei der digitalen Transformation geht es zunächst um technische Voraussetzungen, die uns dann viel stupide Arbeit abnehmen können.
Können Sie uns ein Beispiel verraten?
Wir haben unser Mobile Banking neu lanciert, das wir gemeinsam mit einem Partner entwickelt hatten. Es ist wirklich «State of the Art». Sämtliche Prozesse können heute schnell, smart und sicher abgewickelt werden. Gleichzeitig liegt unsere Kernkompetenz weiterhin in der persönlichen Beratung. Selbst wenn wir neue Hard- und Software brauchen, um à jour zu bleiben, wollen wir den persönlichen Kontakt zu unseren Kundinnen und Kunden weiterhin pflegen und individuelle Lösungen finden. Beratung ist und bleibt bei uns persönlich.