Wenn Unternehmen an einem Scheideweg stehen, greifen sie normalerweise zu klassischen Methoden: Sie schicken ihre Führungskräfte in Zweitages-Seminare oder Einzel-Coachings in der Erwartung, dass sich das Unternehmen von heute auf morgen verändert. Sie überarbeiten Organigramme und restrukturieren Abteilungen und Produktlinien – und wundern sich, dass bald alles ist wie vorher und der gewünschte Effekt nicht eintritt. Der folgende Beitrag zeigt, dass es auch anders geht.
Es war damals ein Zuckerschock für den Pharma-Markt: Als die Brüder Willy und Peter Michel aus Burgdorf vor mehr als 35 Jahren weltweit die ersten Mikro-Insulinpumpen herausbrachten, verbesserten sie damit das Leben von Menschen mit Typ-1-Diabetes weltweit. Neben den Infusionssystemen spezialisierten sich die Gebrüder Michel seinerzeit auch auf Injektionssysteme. Im Jahr 2003 verkaufte Mitbegründer und Hauptaktionär Willy Michel das Infusionsgeschäft an Roche, behielt aber das Injektionsgeschäft. Daraus entstand die Ypsomed AG, die seither ihre eigene Erfolgsgeschichte schreibt. Seit 2004 ist Ypsomed an der SIX Swiss Exchange gelistet und mittlerweile ins Insulinpumpen-Geschäft zurückgekehrt – seit vier Jahren auch wieder mit einer eigenen Insulinpumpe, der mylife YpsoPump. Dabei werden die Injektionssysteme für Pharmaunternehmen wie auch die direkt vertriebenen Insulinpumpen immer digitaler und vernetzter.
Dies und die zunehmende Internationalisierung steigerten die Komplexität in Management und Produktion. Wachsender Innovationsdruck, die Marktnachfrage nach digitalen Gesamtlösungen sowie die Chancen datengetriebener Geschäftsmodelle erforderten von dem bislang klassischen Medizinprodukthersteller neue Kompetenzen und eine viel höhere Dynamik auf allen Ebenen. Bei der bisherigen Geschwindigkeit würde das Unternehmen in absehbarer Zeit an die Grenzen seines inneren Wachstums stossen. Will ein Unternehmen schnell auf Marktherausforderungen reagieren, müssen dessen Führungskräfte bereit sein und gelernt haben, Eigeninitiative zu übernehmen, Verantwortung nach unten abzugeben und Aufgaben zu delegieren.
Bei Ypsomed wurden viele Entscheidungen aber zentral gefällt, sodass die zweite und dritte Führungsebene gar nicht rechtzeitig trainieren konnte, Verantwortung zu übernehmen. Bis ungefähr 2010 bildete die Unternehmens- und Führungskultur ein Traditionsunternehmen mit Top-down-Entscheidungen ab, während das Unternehmen sich operativ bereits dem Druck einer massiven, marktgetriebenen Transformation gegenübersah.
Um die bisherigen Erfolge langfristig abzusichern und die Resilienz der Organisation gegenüber dem künftigen Marktgeschehen zu steigern, entschied sich die Ypsomed AG gemeinsam mit den Experten der step 5 AG zu einem ungewöhnlichen Führungskräfteentwicklungsprojekt. Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der step 5 beim Führungskräftecoaching ist ein strukturierter Ansatz, der jenseits konventioneller Standards arbeitet und Lernprozesse so hirngerecht gestaltet, dass sie der Natur des menschlichen Gehirns am besten entsprechen. Relevanz der Inhalte, Autonomie und Freiwilligkeit sind nur einige Aspekte, die das Lernen deutlich erleichtern, weil sie neurobiologische Belohnungsprozesse im Gehirn auslösen. Darüber hinaus soll das gesamte Programm bereits selbst Gelegenheit geben, erwünschte beziehungsweise zukünftige Führungswerte auf dem Weg zur neuen Unternehmenskultur gleich anzuwenden und zu trainieren.
Kompetenzkategorien
Bei Ypsomed steht das auf mehrere Jahre angelegte Programm, das bis heute andauert, unter dem Leitmotiv «Leading for Future» (L4F). Rund 170 Führungskräfte des Unternehmens auf sämtlichen Hierarchieebenen sind seither eingebunden. In einem Vorprojekt erarbeiteten Manager aus unterschiedlichen Ebenen unter interner und externer Begleitung, über welche Kompetenzen die Führungskräfte bei Ypsomed im Jahr 2024 verfügen sollten. Das so entwickelte Kompetenzmodell fusst auf dem Fundament der Unternehmenswerte und der Führungsgrundsätze von Ypsomed. Insbesondere die Unternehmenswerte bilden den langfristigen Kern der Unternehmenskultur. Die Führungsgrundsätze wiederum sind im Sinne dieser Werte ausgearbeitet. Sie tragen so dazu bei, dass die Unternehmenswerte im Alltag lebendig und erlebbar sind.
Das Kompetenzmodell umfasst die drei zentralen Kompetenzkategorien «Run Business», «Lead People» und «Develop Myself». «Run Business» umfasst strategisches Handeln, Kunden- und Ergebnisorientierung sowie das Treffen von Entscheidungen. In «Lead People» manifestiert sich unter anderem die Anforderung an Führungskräfte, die Potenziale ihrer Mitarbeitenden zu entwickeln, die Zusammenarbeit zu fördern, professionell zu kommunizieren und den Wandel aktiv zu gestalten.
Mit «Develop Myself» sind Führungskräfte aufgefordert, wertorientiert zu agieren, authentisch zu handeln, Verantwortung für das Unternehmen, aber auch für sich selbst zu übernehmen und an der persönlichen Weiterentwicklung zu arbeiten. Auf dieser Basis ist ein generelles Anforderungsprofil entstanden, wie Führungskräfte selbstbestimmt an ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen und -zielen lernen können.
Das Herzstück
Um den gesamten Prozess nicht nur hirngerecht, sondern vor allem so businessnah wie möglich zu gestalten, hatte jede Führungskraft zum Start des eigentlichen Projekts eine für die Organisation ohnehin bestehende Herausforderung auszuwählen, der sie sich widmen würde: eine sogenannte Business Challenge. Sie bildet das Herzstück des step-5-Ansatzes. Als externe Interne flankiert step 5 die Business Challenges durch Peer Coachings, kollegiale Lern- und Reflexionseinheiten sowie Seminarmodule, in denen Trainer die selbstorganisierten Lernprozesse mit Anregungen und Empfehlungen unterstützen.
Beim Peer Coaching unterstützen sich Führungskräfte gegenseitig bei der Lösung von aktuellen Problemen. Sie befeuern so den allgemeinen Lernprozess und stärken wiederum ihre eigenen Coaching-Fähigkeiten. Diese ausbalancierte Mischung aus Selbstverantwortung, Lernen mit den Kollegen und für die Organisation einerseits sowie der kollegialen und externen Unterstützung (Coaching, Seminare, Beratung) andererseits macht den Unterschied zu herkömmlichen Ansätzen aus. An die Stelle von Theorievermittlung mit Frontalunterricht tritt die Praxis, die als Katalysator kollektiver und individueller Lernfortschritte wirkt und zu greifbaren, businessnahen Ergebnissen führt. Nichts bleibt theoretisch, alles lässt sich unmittelbar zur Lösung der Business Challenge anwenden, was sich sehr förderlich auf die Lernmotivation auswirkt.
Systemische Kompetenzentwicklung
Wie ergebnisoffen die Business Challenges verlaufen können, zeigt unter anderem die Konzeption eines neuen Modells für das Supply Chain Management. Dabei manifestierte sich im Team unter anderem die Einsicht, dass sich bislang alle Einkaufsmanager als Generalisten verstanden und sich jeder entsprechend für alle Warengruppen als ausreichend kompetent einstufte – eine Erkenntnis, die dank der Business Challenge schneller reifte und durch eine abteilungsübergreifende Reflexion zu einem beschleunigten Lernprozess führte. Schliesslich setzte sich die Einsicht durch, dass Einkäufer durch eine Spezialisierung inhaltlich effizienter werden, was sich auch positiv auf die Lieferantenbeziehungen auswirken kann. Das Beispiel zeigt ebenfalls: Durch die interdisziplinäre und abteilungsübergreifende Zusammensetzung der Business Challenge haben die Führungskräfte einen systemischen Blick auf die eigene Organisation. Der offene Austausch und die Peer Coachings führen dazu, dass die Führungskräfte ihre eigenen Denkmuster, ihre Rollen und Funktionen hinterfragen – ein wertvoller Prozess sowohl für die Beteiligten als auch für die Organisation, durch den ein Top-down nie entstanden wäre. Durch die Phasen der Reflexion bei der kollegialen Fallbearbeitung entstehen kollektive Learning Loops, die auch zu individuellen Lernerfahrungen führen. In diesen Prozessen fungieren interne Berater aus HR sowie die step-5-Coaches als Begleiter auf Augenhöhe und nicht mehr als Anleiter. Vielmehr schaffen sie den Raum, moderieren vielleicht Anlaufphasen der Gruppen oder geben methodische Anregungen; die eigentlichen Lernerfolge entstehen aber in den Gruppen. Ergänzt werden diese Prozesse dann durch fortlaufende Entwicklungsgespräche zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden, um individuelle Lernbedarfe zu ermitteln und diese zeitnah beispielsweise mit Seminaren zur Methodenkompetenzentwicklung zu bedienen. Dieses Vorgehen führt am Ende des Tages zu einer neuen Führungskultur.
Verankerung des Lernfortschritts
Da erworbenes Wissen in den Business Challenges täglich angewendet und durch Peer Coachings selbstorganisiert und damit jenseits von Laborsituationen mitten im unternehmerischen Alltag verstärkt wird, verankert sich das Gelernte als neue Routine im Führungsverhalten und damit in der Unternehmenskultur – und fällt damit in der Organisation auf einen viel fruchtbareren Boden als bei üblichen Ansätzen.
Angestrebte Führungswerte wie eine stärkere Kundenorientierung und strategisches Handeln leben die Führungskräfte konkret und täglich im Rahmen des Programms. Ihr Führungsverhalten selbst erleben sie als wirkungsvoll und positiv, denn es zeitigt Ergebnisse. Diese Art des Lernens ist vergleichbar mit dem Sprachenlernen. Wer nur Texte liest, behält keine Vokabeln. Wer aber in dem Land lebt, den Alltag mit den Einheimischen teilt und ständig die Fremdsprache spricht, nach Bezeichnungen für Gegenstände fragt, eignet sich schneller einen neuen Wortschatz an. Vokabeln, Redewendungen, Grammatik und Satzkonstruktionen und vor allem die Aussprache gehen schneller «in Fleisch und Blut» über als in einem Seminarraum.
Erste Bewährungsprobe
Das Projekt ist auf zwei bis drei weitere Jahre angelegt und zeigt bereits deutliche Erfolge. Während der Covid-19-Lockdowns lief die Produktion beispielsweise weiter, die Führungskräfte aber arbeiteten häufiger im Homeoffice. Für die Schichtleiter waren sie dadurch schwerer zu erreichen. Statt auf Entscheidungen zu warten, agierten die Produktionsmitarbeitenden selbstständiger und eroberten sich Entscheidungskompetenzen – ein erfreuliches Ergebnis des Kulturwandels im Rahmen des L4F. Denn nach übereinstimmender Einschätzung verlief die Produktion auf diese Weise sogar reibungsloser. Und das war keine Einzelerfahrung. L4F erfährt unternehmensweit eine positive Wahrnehmung, Delegation funktioniert bereits reibungsloser als früher. Der Austausch und die abteilungsübergreifende Kommunikation werden selbstverständlicher, die Manager sind professioneller in ihrer Selbstführung. Im Umgang mit zunehmender Komplexität registriert die Geschäftsleitung Fortschritte durch die Aktivierung unternehmensweiten Wissens. Die Entwicklung der Führungskräfte vollzieht sich damit nicht mehr zwei Tage in unternehmensfernen Seminarräumen und verflüchtigt sich in der Kurve des Vergessens, sondern verfestigt sich stattdessen in ganz realen und businessrelevanten Alltagsprozessen. Durch L4F entsteht zunehmend ein unternehmerischer Wandel gemeinsam mit der Führungsmannschaft und den Mitarbeitenden, was sie zu Akteuren statt zu Opfern der Veränderung macht. Die Führungskräfte der Ypsomed AG erlernen, erproben und reflektieren durch L4F ein neues Verhalten, um Gegenwart und Zukunft des Unternehmens aktiv zu managen und dabei Verantwortung zu übernehmen. HR und externe Berater wie die von step 5 müssen diese Prozesse eine Weile düngen, indem sie die Umsetzung der Lernerfahrungen in den Alltag beispielsweise durch Reflexionsgespräche begleiten und verstärken, damit das System von innen heraus weiterwachsen kann. Und dass das Unternehmen auf einem guten Weg ist, manifestiert sich bereits an bestimmten Faktoren: Die Arbeitszufriedenheit hat sich erhöht, das Gesamtsystem arbeitet agiler, prozessorientierter, ist weniger störungsanfällig und damit resilienter gegenüber Veränderungen in der Zukunft.