Wie führt man richtig? Gibt es einen «richtigen» und einen «falschen» Führungsstil? Viele Unternehmensverantwortliche ziehen es immer noch vor, negative Ereignisse hervorzuheben, statt die positiven Erfahrungen auf die Agenda zu setzen, die ein Mitarbeiter bearbeitet hat. Damit bleibt viel Potenzial ungenutzt.
Nach einer arbeitsreichen Woche sitzt er müde und geschafft am Freitagabend zu Hause auf der Couch. Er lässt die Woche Revue passieren: Begegnungen, Gespräche, Klienten. Ein Highlight gab es in dieser Woche: die Zusage für ein tolles Projekt. Eine Herausforderung, über die er sich sehr freut und die ihm viel bedeutet … Seine Frau steht derweil in der Küche und ist mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt, als er voller Enthusiasmus von diesem Projekt erzählt. Doch die unerwartete Reaktion aus der Küche, die er sich anders erhofft hatte, löst in diesem Moment bei ihm eine gedankliche und emotionale Kettenreaktion aus. Ihm wird mit einem Schlag bewusst, wie viel Mangel an gegenseitigem Interesse und Wertschätzung sich in den letzten Jahren in die Beziehung mit seiner Frau eingeschlichen hatte. Der Mann auf der Couch war ich …
Als vor einiger Zeit meine Ehe zu Bruch ging, habe ich mich natürlich gefragt: Wie konnte ausgerechnet mir als Experte für Selbst -und Beziehungskompetenz so etwas passieren? Und wie würde ich es in den kommenden Jahren als Vater schaffen, die Beziehung zu meinen Kindern bewusst zu gestalten und zu erhalten?
Schwere Verantwortung
Stehen auch Sie in der Verantwortung? In der Verantwortung für Mitarbeitende, für Teams, für interne und externe Kunden und Projekte? Und geht es nicht überall da, wo wir mit Menschen gemeinsam etwas erreichen wollen darum, diese Beziehungen bewusst zu gestalten, auch unter schwierigen Bedingungen zu erhalten und – wenn nötig – auch wiederherzustellen und zu heilen? Und was bedeuten diese Fragen in Bezug auf Führung? In Bezug auf die Führung der Menschen, für die wir verantwortlich sind?
Ich habe im Rahmen meiner branchen- und kulturübergreifenden Arbeit immer wieder die Gelegenheit, mich mit Vorständen, Geschäftsführern und Führungskräften aller Stufen über Führung zu unterhalten. Sie alle bestätigen mir vor allem eines: Führung befindet sich im Wandel.
Führung befindet sich im Wandel
Das Umfeld, in dem Führung heute geschieht, ist seit Jahren geprägt von einer zunehmenden Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Vieldeutigkeit. Zusammengefasst im Akronym VUCA, das bereits in den 90er-Jahren vom U. S. Army War College benutzt wurde, um die Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges zu beschreiben, und das als stehender Begriff mittlerweile auch die Wirtschaft und die Führungsetagen erreicht hat. Ganz besonders die nach wie vor aktuelle, weltweite Corona-Krise ist ein extremes VUCA-Beispiel. In einer solchen Welt gewinnen Sinnhaftigkeit, Selbstorganisation und eigenverantwortliches Handeln immer mehr an Gewicht. Wenn Organisationen früher Menschen gebraucht haben, die getan haben, was man ihnen sagte, so brauchen sie heute Menschen, die tun, was man ihnen nicht sagt. Dazu braucht es vor allem eines: vertrauensvolle, tragfähige Beziehungen. Denn egal, ob Sie im B2B- oder im B2C-Geschäft tätig sind: Es ist immer H2H – Human to Human, Mensch zu Mensch. Heute und in Zukunft sind Organisationen und ganz besonders deren Führungskräfte gefordert, in diesem unsicheren Umfeld sicher und wirksam zu navigieren.
Wie können wir also in der täglichen Zusammenarbeit auf das Beziehungskonto der Menschen einzahlen, die wir führen, sodass sie uns auch in Krisen- und Ausnahmesituationen folgen, wenn sehr direktives Führen mit klaren Anweisungen notwendig ist?
Mitte des letzten Jahrhunderts sagte der berühmte Dwight D. Eisenhower, General und US-amerikanische Präsident: «Leadership ist die Kunst, jemanden dazu zu bringen, das zu tun, was man möchte, weil er oder sie es tun will.» Dieses Zitat hat nichts von seiner Relevanz verloren. Im Gegenteil. Besonders der letzte Teil des Satzes ist heutzutage ein wesentliches Merkmal guter Führung. Was bewegt uns Menschen also dazu, aus eigenem Antrieb, eigenverantwortlich und selbstorganisiert zu handeln?
Emotionen führen zu Handlung
Nichts ist dabei entscheidender als unsere emotionale Verfassung: Wir Menschen sind keine denkenden Wesen, die auch noch Emotionen haben, irgendwo im Keller unten. Emotionen, die sowieso nur stören – ganz besonders in der Arbeitswelt. Wir sind in allererster Linie fühlende Wesen, die auch die Fähigkeit haben, rational zu denken. Emotionen sind unser primäres Evaluations-, Entscheidungs- und Navigationssystem im sozialen Miteinander. Geht es uns gut, sind wir im Wachstumsmodus. Dann blühen wir auf und sind deshalb in Kontakt mit unserem ganzen Potenzial: mit unserem Wissen, unserer Erfahrung und unserer Intuition. Und zwar deutlich mehr, als wenn wir in einem neutralen, negativen oder gar im Überlebensmodus und damit im Stress sind. Denken Sie an Ihre eigene Schulzeit: Wann lernten Sie besser und nachhaltiger? Wenn Sie mit Leidenschaft und Begeisterung an den Themen dran waren oder eben stattdessen lediglich um Belohnung zu bekommen oder Strafe zu vermeiden? Weshalb ist das nun entscheidend in der Führung von Menschen?
Der wesentliche Unterschied zwischen Gedanken und Emotionen ist, dass Gedanken zu Erkenntnissen führen und Emotionen zu Handlung», sprach einst der kanadische Neurologe Donald Calne. Worum geht es Ihnen also in der Führung? Wollen Sie, dass die Menschen einfach nur verstehen, was sie tun sollen, und Ihre Anweisungen befolgen – was wie schon erwähnt in gewissen Ausnahmesituationen durchaus richtig und wichtig sein kann – oder wollen Sie, dass die Menschen in Ihrem Sinne handeln, weil sie es von sich aus wollen und sich deshalb engagiert und eigenverantwortlich an die Arbeit machen?
Wenn Letzteres der Fall ist, dann gilt es, positive Beziehungen zu gestalten und zu erhalten – zu uns selbst und zu den Menschen, die wir führen. Beziehungen, in denen die positiven Emotionen überwiegen – das Beziehungskonto also im Plus ist. Denn dann sind diese Beziehungen auch in Krisen oder Ausnahmesituationen sehr viel belastbarer.
Ganz wesentlich ist für unsere emotionale Verfassung, ob unsere wichtigsten Grundbedürfnisse erfüllt sind. Dazu gehören ganz besonders die Bedürfnisse nach Wert
schätzung, Autonomie, Orientierung und Verbundenheit. Das bedeutet, wir müssen als erfolgreiche Leader ein Klima von gegenseitiger Wertschätzung, Vertrauen und psychologischer Sicherheit schaffen, in dem sich jeder angenommen und gesehen fühlt. In dem sich jeder sicher genug fühlt, auch Fehler zuzugeben und andere um Unterstützung zu bitten. Damit das gelingt, müssen wir zuallererst mit uns selbst in einer guten Beziehung stehen, denn die eigene Vorbildwirkung und was wir ausstrahlen ist der mitunter stärkste Hebel, der uns in der Führung zur Verfügung steht.
Es gibt immer noch Widerstand
«Aber, Herr Gelmi: So geht das doch nicht. Das klingt mir doch alles zu sehr nach Ponyhof und Kuschelkurs. Meine Mitarbeiter werden doch nicht dafür bezahlt, sich wohlzufühlen. Und ich bin hier doch weder der Entertainer noch der Seelsorger. Das steht so übrigens auch nicht in meiner Stellenbeschreibung! Es ist mein Job, kritisch hinzuschauen, Probleme zu identifizieren und zu lösen. Und abgesehen davon: Mein Vertrauen muss man sich erst mal verdienen.» Dieses Zitat ist eine Aussage, die ich tatsächlich von mehr als einem Vorgesetzten in der einen oder anderen Form schon gehört habe. Und ich kann das an der einen oder anderen Stelle sogar nachvollziehen. Denn natürlich ist es Ihr Job, Probleme zu erkennen und zu lösen. Und ich verstehe auch, dass einige Führungskräfte mit Ende 50 sich nicht mit 20-Jährigen ständig über die Sinnhaftigkeit ihrer Entscheidungen unterhalten wollen.
Wer wollen Sie sein?
Wählen Sie unter zwei Optionen: Erstens: Sie erfüllen Ihre Funktion als Manager, fokussieren sich auf Zahlen und fordern vor allem Leistung ein. Oder zweitens: Sie entscheiden sich dazu, Leader zu sein, fokussieren sich auf die Menschen und ermöglichen und fördern vor allem Leistung. Dass noch immer viele Führungskräfte in Unternehmen im ersten Modus unterwegs sind, wird mir leider noch viel zu oft von Mitarbeitern bestätigt: Zitate wie: «Wir werden meistens nur kritisiert. Wenn alles gut läuft, hört man nichts», «Wir gehen begeistert und motiviert in Meetings und kommen ernüchtert und entmutigt wieder heraus» oder «Wenn etwas schiefgegangen ist, dann ist meist die erste Frage: «Warum ist das passiert und wer ist schuld?»
Nun, bei den wenigsten Führungskräften ist das auf Nachlässigkeit oder sogar böse Absicht zurückzuführen. Stattdessen hat es in erster Linie mit unserem sehr menschlichen und uralten Überlebens- Radar zu tun: Alles, was wir als negativ bewerten, ist wie ein Magnet für unsere Aufmerksamkeit – sie wird davon regelrecht angezogen. Angenommen eine Aufgabe ist Ihnen heute missglückt – und 15 andere sind Ihnen gut gelungen. Woran denken Sie auf dem Heimweg von der Arbeit? Worüber denken Sie nach, wenn Sie abends versuchen einzuschlafen? Die Psychologie spricht hier von der sogenannten Negativverzerrung – ein asiatisches Sprichwort bringt es ganz einfach auf den Punkt: «Ein fallender Baum macht mehr Lärm, als ein ganzer Wald, der wächst
Deshalb sind Führungskräfte meist im Problemlösungsmodus unterwegs, wenn sie durch das Unternehmen gehen, und sehen deshalb vor allem Fehler, Missstände und Abweichungen. Und jetzt raten Sie mal, wozu sie dann ihren Mitarbeitern Feedback geben. Kritisches Feedback, das im Übrigen auch oft nicht hirngerecht verabreicht wird und darum beim Empfänger potenziell zu einer emotionalen Stressreaktion und in der Folge zu Angriff, Rechtfertigung oder Rückzug führt.
Wir müssen also ganz besonders als Führungskräfte unser Gehirn darauf trainieren, auch den wachsenden Wald zu sehen. Ich sage ganz bewusst AUCH, denn es geht nicht darum, die fallenden Bäume – und damit die Probleme – zu ignorieren. Die fallen Ihnen sonst nämlich früher oder später ganz sicher auf den Kopf. Es geht darum, den eigenen Aufmerksamkeitsradar zu erweitern, sodass er die ganze Realität erfasst. Und weil das eben ein Stück weit gegen unsere Natur geht, braucht es dazu immer wieder eine bewusste Entscheidung.
Das bedeutet konkret?
Falls Sie sich hier und jetzt dafür entscheiden, als Leader durchzustarten, habe ich zwei ganz konkrete Empfehlungen für Sie, wie Sie in der täglichen Zusammenarbeit auf die Beziehungskonten der Menschen einzahlen können, für die Sie Verantwortung tragen – und auf Ihr eigenes: Entscheiden Sie sich zunächst für einen positiven Fokus. Indem Sie noch heute damit beginnen, sich jeden Abend zwei einfache Fragen zu stellen: Was ist mir heute gut gelungen und wofür bin ich dankbar?
Indem Sie damit beginnen, Ihre Mitarbeiter dabei zu ertappen, wie sie etwas gut machen – um es Ihnen dann zu sagen. Und indem Sie nicht mehr fragen, warum etwas passiert ist und wer daran schuld ist, sondern wie es passieren konnte, was nun zu tun ist und was alle Beteiligten daraus lernen können. Ein weiterer Tipp: Beginnen Sie damit, zunehmend Leistung zu fördern, statt nur zu fordern. Indem Sie vermehrt über Fragen führen, statt Anweisungen zu geben. Und dann zuhören. Nicht um zu antworten oder um recht zu haben, sondern um zu verstehen und zu unterstützen.
Sicher haben Sie schon viele Beiträge über gute Führung gelesen und gehört. Das Thema Leadership ist in aller Munde, und tatsächlich ist es in vielerlei Hinsicht auch ganz einfach. Man könnte bei vielem sogar sagen, es handelt sich eigentlich nur um gesunden Menschenverstand. Doch es gibt eine Kleinigkeit, die den Unterschied darüber macht, ob dieser gesunde Menschenverstand nur Erkenntnis bleibt oder auch zu Handlung wird. Ein einziges, kleines Wort: tun.
Zeit zu handeln
Als ich vor einigen Jahren ein zweiteiliges Programm in den USA durchgeführt habe, kam im zweiten Teil ein Teilnehmer in der Kaffeepause zu mir und zeigte mir sein Smartphone mit den Worten: «Look, Thomas, this saved my marriage» – das hat meine Ehe gerettet. Ich sah ihn etwas überrascht an und sagte: «Interessant, normalerweise ist es doch mit diesen Dingern umgekehrt!» Er sagte: «Nein, hier: schau!» Da sah ich erst, dass er sich eine Erinnerung gesetzt hatte, die jeden Morgen aufpoppte, mit den Worten: «Talk less – listen more». Diese Erinnerung an seine Absicht hatte er sich für sein Arbeitsumfeld gesetzt – doch interessanterweise war seine Frau die erste Person, die etwas davon bemerkte. Und das wiederum veränderte die ganze Beziehung zum Positiven.
Lassen Sie uns hier und jetzt also aufhören, nur darüber zu reden und lassen Sie uns einen ersten Schritt tun: Nehmen Sie jetzt gleich Ihr Handy zur Hand, wählen Sie nur eine der beiden oben genannten Empfehlungen und setzen Sie sich eine täglich wiederholende Erinnerung dafür. Beginnen Sie hier und jetzt damit und beobachten Sie, wie sich nach und nach die Qualität Ihrer Beziehungen verbessert und sich Ihr Wirkungsgrad in der Führung von Menschen spürbar erhöht. Schritt für Schritt. Denn oft sind es die kleinen Dinge, mit denen wir die Welt verändern.