Die Veränderungsprozesse der digitalen Transformation treffen sprichwörtlich auf unser Gehirn. Wir haben mit Horst Kraemer, dem Entwickler der Methode Neuroimagination, über Digitalisierung, Stresskompetenz und neuronale Agilität ein Hintergrundgespräch geführt.
Wir befinden uns mitten in einer industriellen Revolution. Stichworte wie Big Data, Blockchain, KI oder Industrie 4.0 führen zu gesellschaftlichen Erregungszuständen. Entweder werden die neuen Technologien euphorisch abgefeiert oder die Katastrophenszenarien in den Vordergrund gestellt. Was löst dies bei uns aus?
Mit Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Robotic kommen Veränderungen in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit auf uns zu. Dies wird je nach Menschtyp mit einem Kontrollverlust wahrgenommen und setzt neurobiologische Prozesse mit den unterschiedlichsten Effekten frei.
Neurobiologische Prozesse – was bedeutet das konkret?
Es geht um die menschliche Wahrnehmung, die Reaktion von Kognition und Emotion. Gewohnte Abläufe nun mit digitaler Technologie in innovative Geschäfts ideen umzusetzen und ins digitale Ökosystem zu transformieren, löst einen «Neulandreflex» aus. In der Neurobiologie meinen wir damit, sich ins Unbekannte zu wagen. Um sich nicht schutzlos in eine womöglich gefährliche Welt zu begeben, werden innere, archaische Prozesse ausgelöst. Es geht um eine von der Natur angelegte innere «Risikoeinstellung». Dieser neurobiologische Faktor entscheidet über eine pessimistische oder eine optimistische Haltung zu bevorstehenden Veränderungen. Hiervon hängt Kommunikation, Gelingen und Teamwork bei Veränderungsprozessen ab.
Wirkt sich dieser «Neulandreflex» auf die Gesundheit aus, und sollte für das Zeitalter der Digitalisierung Gesundheitskompetenz neu durchdacht werden?
Ja, denn Angst oder Veränderung stört das Zusammenspiel von Nerven-, Hormon- und Immunsystem, welches unser Verhalten und unsere Fähigkeit steuert und entscheidet, wie wir mit belastenden Situationen umgehen. Wenn Überforderung oder Veränderung zur Belastung wird und Stress auslöst, verändern sich Verhaltensformen, Kommunikationsmuster, Reflexe, Leistung und Gesundheit. Missverständnisse entstehen – Misstrauen wächst. Neurobiologisch ist in diesem Kreislauf eine Vertrauenskultur nicht mehr möglich. Um die Ressource Mitarbeiter optimal einsetzen zu können, sollten Unternehmer diese Veränderungen berücksichtigen. Denn eine psychische und körperliche Gesundheit ist die Voraussetzung für Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und soziale Integration. In puncto Gesundheitskompetenz ist die Erweiterung des Wissens um die Auswirkung von Belastungen auf den Alltag, die persönliche Einstellung, die Resilienz und die Unternehmenskultur, in der sich der einzelne Mitarbeiter entfalten und entwickeln kann, ohne dass er stagnieren und krank werden muss, unerlässlich.
Dazu braucht es ein passendes Bewusstsein?
Ja, dazu gehört Aufklärung und Unterstützung im Umgang mit dem biologischen «Neulandreflex» – mit den Wechselwirkungen auf Kommunikation, Leistung und Gesundheit. Dabei sollte Wissen über die Auswirkungen von Stress und Extrembelastung genauso selbstverständlich sein wie das Training von effektiven Tools, damit der positive Umgang mit Veränderung in Unternehmen und Gesellschaft nicht mehr dem reinen Zufall überlassen bleibt. Wenn Prävention auf der Appell-Ebene vermittelt wird, wirkt dies eher abschreckend. Durch die Stressforschung ist es uns möglich, das Hormon- und Nervensystem so zu erreichen, dass eine spürbare und nachhaltige Veränderung von Kommunikation, Verhalten und Gesundheit möglich ist.
Wo sehen Sie das zentrale Defizit in der Entwicklung der Digitalisierung?
Im digitalen Alltag fehlen zunehmend lebenswichtige menschliche Begegnungen und Sinnesreize. Es bleibt kaum mehr Zeit für ehrliche Empathie. Das Einfühlungsvermögen und die soziale Kompetenz gehen verloren. Meine grosse Sorge ist, dass bei der digital aufwachsenden Generation die soziale Interaktion verkümmert.
Springen wir in den beruflichen Alltag. Wir kennen die Szenarien: Der Chef findet eine / n Mitarbeiter / in erschöpftem Zustand vor. Dann heisst es auf den Punkt gebracht: Ich finanziere Dir einen Entspannungs-Kurs und alles wird gut. Warum sind aus Ihrer Sicht solche Verhaltensweisen unzureichend?
So individuell wie wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Möglichkeiten, die zur Erschöpfung beitragen. Entspannungs-Kurse gehen der Ursache sicher nicht auf den Grund und können somit auch eher selten eine nachhaltige Intervention sein. Es braucht eine Analyse, was ist verhaltensbedingt und was ist verhältnisbedingt der Grund für die Erschöpfung, um eine passende Soforthilfe anzubieten.
Sie haben die Methode Neuroimagination entwickelt. Um was geht es hier?
Wir haben über 20 Jahre in wissenschaftlicher und praktischer Arbeit unter Einbindung der Neurobiologie eine Selbststeuerungstechnik zur Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheitsprävention und Stress-Soforthilfe entwickelt.
Was ist das Ziel dabei?
Ziel ist die Selbststeuerung von Wille und Emotion für eine neuronale Flexibilität, um in gewohnter Schnelligkeit wieder zu verschalten – auch dann, wenn Stressblockaden dies schon länger verhindern. Eine neuronale Starre, die mit Körpersymptomen wie Schlafstörung, Schmerzen oder Denk- und Merkfähigkeitsstörung einhergeht, wird aufgelöst und die Regenerationsfähigkeit wieder hergestellt. Die zur Erholung nötigen Hormone werden nachhaltig produziert und die Vitalstoffdepots aufgefüllt.
Das braucht aber professionelle Trainingseinheiten?
Ja, die neuronale Flexibilität zu trainieren und zu pflegen findet mit lizenzierten Neuroimaginations-Coaches® statt und ist aus meiner Sicht für alle Lebenslagen unerlässlich. Der Umgang mit dem «Neulandreflex» bleibt somit auch nicht dem Zufall überlassen. Zur Bewältigung von Anforderungen, zum Lernen und zum Entwickeln von neuem bleiben emotionale und kognitive Prozesse flexibel. Mit dem Training der Neuroimagination bleibt auch unter hoher Belastung die Denk- und Merkfähigkeit stabil. Und die Willenskraft kann nicht von unbewussten emotionalen Reaktionen im limbischen System sabotiert werden.
Verfügen wir Menschen über eine naturgegebene Selbststeuerung?
Wenn der Mensch ausgeglichen und in seiner Balance ist und genügend Zeit für Regeneration hat – dann ja. Denn durch die Selbststeuerung bleibt der Austausch zwischen Körper und Gehirn aktiv. Der Verlust der Selbststeuerung kann sich schleichend durch unverarbeitete digitale Reize, durch tägliche Sorgen, dauerhafte Belastungen oder schlagartig durch einen Unfall oder ein traumatisches Erlebnis einstellen.
Und wie kann die Methode im Unternehmensalltag eingesetzt werden?
Für Unternehmen haben wir das Retention-Health-Management entwickelt. Die Erarbeitung individueller Angebote zur Mitarbeiterbindung, Motivation und zu allen Themen der Persönlichkeitsentwicklung werden in vorhandene Abläufe integriert und verhindern so ein teures und verpuffendes Giesskannenprinzip. Bei Bedarf können nach einer anonymen online Gefährdungsanalyse und einem Roundtable von Recruiting-, HRM- und BGM-Verantwortlichen Angebote wie Seminare, Trainings und Coachings zielsicher konzipiert und in die Unternehmensplanung integriert werden. Didaktischer Kompetenzaufbau braucht regelmässigen theoretischen und praktischen Wissenstransfer für die erfolgreiche Umsetzung im Alltag. Qualifizierte Mitarbeiter in ihren Ressourcen zu stärken, sie kommunikationsstark und agile für die kooperative Zukunfts gestaltung aufzubauen, sie an das Unternehmen zu binden und zu motivieren, ist neben der Soforthilfe bei Stressfolgeschäden wie Burn-out derzeit unser stärkstes Arbeitsfeld in Puncto Personalmanagement und Unternehmensverantwortung. Frühzeitige Wissens- und Kompetenzvermittlung unter Einbezug der neurobiologischen Fakten, erzeugt Selbstwirksamkeit und Regeneration für Leistungsstärke und Gesundheit.