„Korinthenkacker“ – so nannte sein Tennistrainer in Münster den jungen Spieler, der jedes Detail hinterfragte. Besonders wenn es um den konditionellen Bereich ging, stellte der 17-Jährige alles in Frage, wollte verstehen, warum Dinge auf bestimmte Weise gemacht wurden. Statt diese Eigenschaft als problematisch zu betrachten, erkannte der Trainer Thomas Halborn das Potenzial. „Die suchen auch Schiedsrichter, hast du nicht Lust, da irgendwie Schiedsrichter zu machen?“ schlug er vor. Aus dieser akribischen Liebe zur Präzision, diesem Respekt vor Prozessen und dem kompromisslosen Fokus auf Korrektheit wurde eine Weltkarriere.
Sören Friemel Reise von den Münsteraner Tennisplätzen zur globalen Sportführung demonstriert eine fundamentale Wahrheit: Authentische Führung entsteht nicht allein aus Ehrgeiz. Sie entwickelt sich durch die Beherrschung der Grundlagen, durch das Annehmen von Komplexität, die andere meiden, und durch niemals kompromittierte Prinzipien – selbst wenn deren Anwendung erhebliche Kosten verursacht. Dies ist keine klassische Erfolgsgeschichte im traditionellen Sinne. Es ist eine Studie darüber, wie Werte sich über Jahrzehnte potenzieren und Türen öffnen, von denen man nicht wusste, dass sie existieren.
Die prägenden Werte: Fairness und Präzision als Karrierefundament
Der Anfang war unspektakulär. Nach einer anderthalbstündigen Schulung über Spielberichtsbögen und grundlegende Abläufe saß der jugendliche Offizielle plötzlich auf dem Stuhl bei seinem ersten internationalen Profimatch in Münster. Der Oberschiedsrichter stand den ganzen ersten Satz neben dem Stuhl, „weil er keine Ahnung hatte, was für eine Plinze da oben sitzt.“ Rückblickend bringt die Erinnerung sowohl Humor als auch Demut: „Ich sah aus wie ein gerupftes Hühnchen da oben.“
Diese frühe Erfahrung, in Situationen geworfen zu werden, die leicht über der aktuellen Fähigkeit lagen, Fehler vor Menschen zu machen, die es besser wussten – das bildete das Fundament. Es gibt keine Abkürzungen zur Glaubwürdigkeit im Schiedsrichterwesen. Entweder kennt man die Regeln und kann sie unter Druck anwenden, oder nicht. Das Publikum, seien es SpielerInnen oder KollegInnen, erkennt den Unterschied sofort.
Das Grundprinzip entwickelte sich früh: „Eine kleine regionale Veranstaltung verdient dieselbe Professionalität wie ein Grand Slam.“ Das war kein Altruismus, sondern strategisches Denken. Der Ruf im Schiedsrichterwesen kommt von Konsistenz über Kontexte hinweg. SpielerInnen, Supervisoren und KollegInnen bemerken, wer Standards unabhängig von den Umständen aufrechterhält und wer den Einsatz nach Turnierprestige anpasst. Diese Beständigkeit über alle Ebenen hinweg – von kleinen Challenger-Turnieren in deutschen Städten bis zu Grand Slams – schaffte Vertrauen, das sich über Jahrzehnte aufbaute.
Die Basketball-Lektion ergänzte diese Entwicklung auf unerwartete Weise. Als Schiedsrichter in regionalen Basketballligen zu fungieren schien zunächst wie ein Umweg. Doch es lehrte entscheidende Lektionen über Präsenz und Autorität. Basketball-Schiedsrichterei ist unmittelbar und konfrontativ auf Weise, wie Tennis es nicht ist. Man trifft Entscheidungen zentimeternah an SpielerInnen und Coaches und bewältigt ständige Anfechtungen des eigenen Urteils. Die Lektion kristallisierte sich heraus: Selbstbewusstes Auftreten kombiniert mit Regelkenntnis schafft Autorität. Ist man bei einem der beiden unsicher, spüren es die Leute sofort.
Das Halle-Open-Prinzip offenbarte eine weitere Dimension wertorientierter Führung. Die Koordination von 150 Ballkindern und LinienrichterInnen wurde zur Ausbildung in Talententwicklung. Entwicklungspfade entstanden: Ballkinder wurden LinienrichterInnen, LinienrichterInnen stiegen zu StuhlschiedsrichterInnen auf, junge Offizielle erhielten Mentoring, das ihren Fortschritt beschleunigte. Ein Ballkind, das in Halle begann – Timo Janzen aus Bielefeld – wurde einer von weltweit nur 32 Gold-Badge-Officials, die höchste Zertifizierung im Tennis-Schiedsrichterwesen. Aber auch für die deutschen Gold-Badge Schiedsrichter Nico Helwerth aus Stuttgart und Miriam Bley aus Würzburg, war das Turnier in Halle eine wichtige Karrierestation und sie konnten vom Mentoring profitieren.
Dies offenbarte eine Kernerkenntnis: Das Vermächtnis ist nicht, was man persönlich erreicht. Es ist, wen man entwickelt und was diese Menschen dann erreichen. Die in Halle ausgebildeten Offiziellen arbeiten heute bei Grand Slams weltweit. Die geschaffenen Systeme für Training und Bewertung beeinflussten nationale und internationale Schiedsrichterstandards. Dieser Wechsel vom Ausführen der Arbeit zum Aufbau von Systemen, die andere befähigen, repräsentiert entscheidende Karriereevolution.
Die Selbsterkenntnis kam im Jahr 2000: „Meine Stärken liegen eher im organisatorischen Bereich.“ Selbstwahrnehmung über den komparativen Vorteil ist enorm wichtig in der Karriereentwicklung. Gut in etwas zu sein bedeutet nicht, dass es der eigene wertvollste Beitrag ist. Der Wechsel vom Stuhlschiedsrichter zu Supervisor- und Governance-Rollen repräsentierte diese Erkenntnis. Es gab sogar einen kurzen Aufenthalt beim CHIO in Aachen, dem weltweit führenden Reitturnier. Die Einsicht: Führungsprinzipien übertragen sich über Sportarten und Branchen hinweg.
Werte unter Druck: Von den US Open 2020 zur heutigen Führungsrolle
September 2020 stellte den ultimativen Wertetest dar. Als US Open Referee stand Sören Friemel vor einer beispiellosen Situation: Die Weltnummer Eins, Novak Djokovic, hatte nach dem Verlust seines Aufschlags versehentlich eine Linienrichterin mit einem Ball getroffen. Die Linienrichterin war verletzt. Die Regeln waren klar über Konsequenzen, aber der Kontext war außergewöhnlich – der größte Star des Turniers, aus einem Grand Slam eliminiert aufgrund einer unbeabsichtigten Handlung.
Die Djokovic-Disqualifikation erfolgte ohne Video-Wiederholung, basierend auf Fakten von Platz-Offiziellen. „Es gab gar keine andere Entscheidungsmöglichkeit“, lautete die Einschätzung, aber diese Gewissheit kam mit persönlichen Kosten. Der Blutdruck war „im leicht erhöhten Zustand“ während des Prozesses. Nach der Entscheidung, beim Verlassen des Platzes, gab es einen inneren Moment des Zweifels: „Ich hoffe mal, dass du das jetzt richtig gemacht hast.“ Prinzipien zu haben ist einfach. Sie anzuwenden, wenn sie etwas kosten – die größte Attraktion des Turniers zu eliminieren, Millionen Fans zu enttäuschen – das ist der eigentliche Test.
Die internationale Anerkennung validierte den Ansatz. Die New York Times schrieb anerkennend. Tennis-Insider erkannten die Entscheidung als korrekt an. Die Unterstützung für die Entscheidung demonstrierte, dass die Tennis-Community bereit war, kurzfristige kommerzielle Interessen der langfristigen Integrität des Sports unterzuordnen.
Die Tablet-Innovation als Beispiel reifen Führungsstils folgte direkt aus dieser Erfahrung. Die US Open stellen Referees jetzt Tablets zur Verfügung, um potenzielle Disqualifikationsvorfälle zu überprüfen, bevor endgültige Entscheidungen getroffen werden. „Es kann nicht sein, dass die ganze Welt die Situation schon 20 Mal im TV oder auf den Screens auf der Anlage gesehen hat und derjenige, der die Entscheidung treffen muss, hat keine detaillierte Ahnung, worum es geht“, reflektierte die Herausforderung. Dies zeigt reife Führung – zu erkennen, dass persönliche Korrektheit weniger zählt als institutionelle Exzellenz.
Als ITF Head of Officiating von 2014 bis 2022 skalierte Sören Friemel diese Werte global. Zertifizierungsprozesse wurden entwickelt, die konsistente Standards von regionalen Turnieren bis zu Grand Slams gewährleisteten. Trainingsprogramme entstanden, die Offizielle auf allen Kontinenten entwickelten. Bildungswege wurden etabliert, damit talentierte junge SchiedsrichterInnen basierend auf Verdienst vorankommen konnten, nicht auf Verbindungen. Das Ziel: Standards sollten unabhängig davon sein, wer sie durchsetzt.
Zugänglichkeit mit Grenzen erwies sich als weiteres Kernprinzip. Als US Open Referee erforderte die Aufrechterhaltung angemessener Beziehungen zu SpielerInnen sorgfältige Navigation. „Ich bin nicht darauf aus, Gespräche zu führen – ich wahre komplette Neutralität“, beschreibt seinen Führungsansatz. Erreichbar sein für legitime Fragen, während man Beziehungen vermeidet, die Objektivität kompromittieren. Diese Balance – hilfreich ohne parteiisch zu werden, zugänglich ohne vertraut zu werden – gilt in jedem Führungskontext, wo Autorität mit Service koexistieren muss.
Die Rückkehr nach Münster 2022 bedeutete keine Abkehr von der globalen Bühne. Nach acht Jahren in London kam die Entscheidung zur Heimkehr. Familie brauchte Unterstützung. Persönliche Verankerung zählte. Aber die Heimkehr bedeutete keinen Rückzug. Die Arbeit setzte sich fort als Supervisor bei Grand Slams, als Berater für den Deutschen Tennis Bund, als jemand, der Glaubwürdigkeit aufgebaut hatte, die jede einzelne Position transzendierte.
Heute wendet Sören Friemel Sportführungsprinzipien in leitender Position bei einem führenden globalen Sportunternehmen an. Die Fähigkeiten übertragen sich: komplexe Stakeholder-Beziehungen managen, Standards unter Druck aufrechterhalten, Teams über Kulturen hinweg aufbauen, organisatorische Integrität schützen. Seine Karriereentwicklung zeigt, dass im Sport entwickelte Werte in jedem Kontext Bestand haben, der operative Exzellenz unter Druck erfordert.
Schlussbetrachtung
Prinzipien zählen mehr als Positionen. Die potenzierte Wirkung tausender kleiner, konsequenter Entscheidungen über Jahrzehnte öffnet Türen, die anfangs unsichtbar waren. Die Reise von jenem Tennisplatz in Münster auf die Weltbühne war nicht geplant – sie wurde verdient durch systematische Anwendung von Werten, die auch unter extremstem Druck niemals kompromittiert wurden. Für jeden, der eine Karriere in irgendeinem Bereich aufbaut, ist die Lektion klar: Fokus auf Exzellenz in dem, was vor einem liegt. Grundlagen beherrschen, wenn sie langweilig erscheinen. Jeden Auftrag als wichtig behandeln, unabhängig vom Prestige. Systeme bauen, die andere befähigen. Integrität bewahren, wenn Kompromisse einfacher wären. Die Möglichkeiten folgen natürlich, wenn das Fundament solide ist.
